KZ-Überlebender Joshua Kaufman:"Wo sind die Schienen?"

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Wo sind die Schienen? Wo der riesige Betonmischer? Joshua Kaufman, fröstelnd, vor den verfallenden Resten des Rüstungsbunkers der Nazis bei Mühldorf. (Foto: Niels P. Joergensen)

Joshua Kaufman aus Los Angeles hat Auschwitz überlebt und die unmenschliche Schufterei im KZ-Außenlager Mühldorf. Mit 86 Jahren kehrt er zurück - und fragt sich, warum so wenig Raum fürs Gedenken bleibt.

Von Benjamin Emonts, Dachau/Mühldorf

Joshua Kaufman aus Los Angeles besitzt zwei Paar Schuhe, eines für die Arbeit, das andere für besondere Gelegenheiten. An diesem nasskalten Tag im April trägt Kaufman die blank geputzten, schwarzen Herrenschuhe aus Leder. Der 86-Jährige steht inmitten eines Waldes bei Mühldorf am Inn, um ihn herum erstreckt sich eine Betonlandschaft, etwas weiter seitlich die 32 Meter hohe und dreimal so breite Ruine eines Rüstungsbunkers der Nazis.

Kaufman blickt seiner Tochter Rachel in die Augen. "Wo sind die Schienen? Wo ist der riesige Betonmischer? Wo sollen hier die Tausenden Menschen gearbeitet haben?" Rachel kann ihm die Antwort nicht geben. Das, was ihr Vater sieht, ist fast alles, was vom ehemaligen KZ-Außenlager Mühldorf übrig geblieben ist.

Jahrzehntelang hat er geschwiegen, er wollte seinen Töchtern das alles nicht zumuten

Hier, im Lager Mettenheim I, musste Joshua Kaufman im Jahr 1944 tagein, tagaus 50 Kilogramm schwere Zementsäcke schleppen. "Zwölf bis 16 Stunden. Wer das nicht geschafft hat, wurde in den Zementmischer geworfen", sagt Kaufman. Viele der KZ-Häftlinge, allein mehr als 2900 im Außenlager Mühldorf, haben die unmenschlichen Strapazen nicht überlebt. Doch der 86-jährige Jude, ein groß gewachsener Mann mit kerzengerader Haltung, steht nun hier: vor den verfallenden Überresten aus seiner Vergangenheit.

Seine vier Töchter und sein fünf Monate alter Enkel Ethan haben ihn von Los Angeles nach Deutschland begleitet. "Seine Familie ist sein Leben", sagt Tochter Malkie. Ihr Vater hat jahrzehntelang über seine Haft in den Konzentrationslagern Auschwitz, Dachau und Mühldorf geschwiegen. Seinen Bekannten, erst recht seinen Kindern wollte er die Erzählungen von den Gräueltaten der Nazis ersparen, sagt er.

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Seit geraumer Zeit aber spricht Kaufman über seinen Leidensweg, "es sprudelt aus ihm heraus", sagt Tochter Judy. Auch jetzt, am Abend vor der Mühldorf-Exkursion, gibt der 86-Jährige bereitwillig und gestikulierend Auskunft. Er steht vor etwa 100 Zuhörern im voll besetzten Besucherzentrum der KZ-Gedenkstätte Dachau. Es ist erst das vierte Mal, dass Kaufman vor Publikum seine Geschichte erzählt. Trotz des ernsten Themas spricht er mit Humor. Der Dolmetscherin schickt er voraus: "I will try to speak in a Shakespeare English." Dann beginnt Kaufman seine eineinhalbstündige Erzählung: in kurzen, einfachen Sätzen. Es wirkt, als sei das Vortragen schon immer sein Geschäft gewesen.

Das Martyrium von Joshua Kaufman beginnt schon während seiner Kindheit in der ungarischen Stadt Debrecen, wo er am 20. Februar 1928 in einer ultra-orthodoxen, jüdischen Familie auf die Welt kommt. Der kleine Joshua, so sieht es die Lebensweise der Familie vor, geht regelmäßig zur Talmud-Schule, er betet täglich und besucht die Synagoge im Ort. Joshua und sein Vater werden wegen ihres Glaubens "jeden Tag, jede Woche, jeden Monat" von ungarischen Faschisten schikaniert, immer wieder auch verprügelt. "Wir hatten uns daran gewöhnt", sagt Kaufman, sein Vater habe ihm immer gesagt: "Alles kommt von Gott."

Als er seinen Vater wiedertrifft, macht er ihm erst mal Vorwürfe: Warum sind wir nicht geflohen?

Joshua, seine Mutter und seine drei Geschwister müssen im Juni 1944 ins Getto von Debrecen umsiedeln und werden wenige Wochen später nach Auschwitz deportiert. Hier lautet das Überlebensmotto angeblich "Arbeit macht frei", wie es in eisernen Lettern über dem Tor des Stammlagers steht. Joshua Kaufman ist stark, deshalb denkt er sich: "Dann arbeite ich halt, was soll's." Als der gefürchtete Nazi-Arzt Josef Mengele ihn von seiner Familie trennt, widersetzt sich Kaufman anfangs noch. Doch schließlich muss er aufgeben, weil er geschlagen wird "wie ein Hund, immer und immer wieder".

Seinen Glauben an Gott verliert der junge Joshua in dieser Zeit. Er sagt: "Ich bin ultra-orthodox erzogen worden und ich war ultra-orthodox - bis ich es mir anders überlegt habe." Am Abend seiner Ankunft liegt im Lager Auschwitz-Birkenau Rauch und ein merkwürdiger Geruch in der Luft. "Alle, die nicht hier sind, werden gerade in Rauch verwandelt", sagt ihm ein Mann und deutet auf das Krematorium. Wie Kaufman später erfahren wird, gingen auch seine Angehörigen - bis auf eine Schwester, die er später noch einmal über einen Zaun sehen sollte - "sofort ins Gas". Von 100 Mitgliedern der Großfamilie Kaufman, das berichtet der 86-Jährige, überlebten letztlich außer ihm nur vier den Holocaust: drei Cousins und sein Vater.

Kaufman, zurückgekehrt an den Ort des Leidens (hier mit Tochter Rachel), kann mit seiner Geschichte aufrütteln. Aber was, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt? (Foto: Niels P. Joergensen)

Für ihn selbst bietet sich nach einigen Wochen die Gelegenheit eines Ortswechsels ins Ungewisse. Freiwilligen wird eine dreifache Essensration in Aussicht gestellt, "alles andere war mir egal". Er begibt sich auf einen viertägigen Fußmarsch - und überlebt, ohne Essen, ohne Schlaf. Wie ist das möglich? Kaufman selbst sagt: "Ich habe einfach immer an eine bessere Zukunft geglaubt." Seine Tochter Rachel ergänzt: "Er sieht immer ein Licht, auch in den finstersten Zeiten."

So gelangt ihr Vater im September 1944 schließlich über einen Zugtransport zum KZ Dachau, von wo aus er einen Tag später ins Außenlager Mühldorf transportiert wird. Wie in vielen Außenlagern Dachaus müssen die Häftlinge dort für die deutsche Rüstungsindustrie arbeiten - bis sie vor Erschöpfung oder vor Hunger sterben. Doch Kaufman ist immer noch stark genug, um zu überleben. Am 30. April 1945 wird er bei einem erneuten Viehwagentransport bei Seeshaupt von den Amerikanern befreit.

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Nach dem Krieg kommt Kaufman mit Hilfe eines russischen Soldaten zurück nach Debrecen, wo er auf seinen Vater trifft. Der war wie viele andere ungarische Juden vor der Deportation von der Regierung zur Zwangsarbeit an der Ostfront verpflichtet worden. Nach seiner Rückkehr macht Joshua Kaufman seinem Vater anfangs schwere Vorwürfe, denn die Familie hätte das Geld gehabt, um schon früher auszuwandern.

Doch der Vater hatte damals immerzu auf die Worte ihres Rabbis verwiesen, der die baldige Ankunft des Messias ankündigte. Doch den, so glaubt Kaufman heute zu wissen, "gibt es genauso wenig wie Santa Claus". Schließlich wandert Kaufman dennoch mit seinem Vater für 25 Jahre nach Israel aus. Er ist Patriot. Mit der israelischen Armee zieht er in den israelischen Unabhängigkeitskrieg, den Sechstagekrieg sowie 1973 in den Jom-Kippur-Krieg.

Tochter Rachel sagt: "Er war mit Israel verheiratet." Bis ihr Vater auf einem Amerikabesuch seine Frau Margarete kennen lernte, eine Jüdin, die als Baby das Getto von Budapest überlebte. Es war Liebe auf den ersten Blick, sagt Kaufman, drei Tage nach der ersten Begegnung habe sie ihm gesagt: "Ich bin dein."

Joshua Kaufman blieb in Los Angeles und bekam vier Töchter, die inzwischen zwischen 33 und 40 Jahre alt sind. Noch heute ist der 86-Jährige mit seinem alten Truck in Los Angeles unterwegs. Der Mann mit der kerzengeraden Haltung arbeitet immer noch als Klempner. Er sagt: "I will sleep when I am dead."

Joshua Kaufman und seine vier Töchter Judy, Rachel, Malkie und Alexandra (samt Enkelkind Ethan) in Mühldorf. (Foto: Niels P. Joergensen)
© SZ vom 22.04.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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