Kinderpsychiater Freisleder:"Auf jeden Fall traumatisiert"

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Der Kinderpsychiater Franz Joseph Freisleder befürchtet bei der siebenjährigen Anja, die ihr Leben lang von der Mutter versteckt wurde, bleibende Schäden.

Dietrich Mittler

Seit ihrer Geburt wurde die siebenjährige Anja aus dem schwäbischen Bayersried von ihrer Mutter wie eine Gefangene gehalten. Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor des Heckscher-Klinikums in München, befürchtet für das Kind schwerste psychische Beeinträchtigungen.

Bayersried: Hier wurde ein Mädchen sieben Jahre lang von seiner Mutter versteckt. (Foto: Foto: dpa)

SZ: Anja Schicksal erinnert frappierend an den Fall Kaspar Hauser. Franz Joseph Freisleder: Mich hat's direkt umgehauen, weil ich gerade an einem Grußwort schreibe, in dem ich Bezug auf Kaspar Hauser nehme. Als Hauser 1828 in Nürnberg auftauchte, wusste er Ähnliches zu berichten wie jetzt in Bayersried - nämlich dass er über viele Jahre in einem verdunkelten Raum aufgewachsen war. SZ: Wie erklären Sie sich als Fachmann die Tragödie von Bayersried?

Freisleder: Das Mädchen ist in einem pathologischen Milieu aufgewachsen. Die Mutter hat das Kind nur als "Schätzle" bezeichnet. Da lässt sich einiges hinein interpretieren - etwa, dass sie das Kind als persönlichen Besitz betrachtet. Es kann aber auch sein, dass sie Anja auf ihre krankhafte Art maßlos geliebt hat.

SZ: Mit welchen Schäden ist zu rechnen?

Freisleder: Das Kind ist auf jeden Fall traumatisiert. Wie der Fall Kaspar Hauser gezeigt hat, treten vielfache Entwicklungsverzögerungen auf - in emotionaler, in motorischer und in sprachlicher Hinsicht. Bei vernachlässigten Kinder sehen wir häufig etwas, was wir als "psychosozialen Minderwuchs" bezeichnen. Die Kinder sind kleiner, schmächtiger, als es für ihr Alter zu erwarten wäre.

SZ: Die Mutter ist der einzige vertraute Mensch in Anjas Leben. Ist eine Trennung nicht ein Schock für das Mädchen?

Freisleder: Das Kind ist zwar durch die pathologische Mutter-Kind-Beziehung traumatisiert. Aber auch die Wegnahme des Kindes hat eine traumatische Qualität. Hier ist große Geschicklichkeit von Seiten der Helfer gefordert.

SZ: Hat Anja überhaupt eine Chance, die verlorenen Jahre aufzuholen?

Freisleder: Das Mädchen ist aufgrund seiner Vorgeschichte eine Hochrisiko-Kandidatin für psychiatrische Erkrankungen. Aber Anja hat eine Chance, wie die Therapieerfolge bei den rumänischen Kindern zeigen, die jahrelang in Heimen eingesperrt waren. Man sollte hier nicht zu schnell die Flinte ins Korn werfen.

SZ: Was braucht das Kind jetzt am meisten?

Freisleder: Orientierung und Sicherheit in einer Welt, die für Anja jetzt völlig neu ist - wenn möglich unter Einbeziehung der Mutter.

SZ: Nahezu jeden Monat wird derzeit ein neuer Fall von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung bekannt. Ist diese Gesellschaft dabei, zu verrohen?

Freisleder: Ich finde, da sollte man sehr vorsichtig sein. Die Zunahme der Fälle ist ja auch ein Hinweis dafür, dass die Gesellschaft aufmerksamer und wachsamer geworden ist.

© SZ vom 20.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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