Erinnerung an das Konzentrationslager Dachau:"Dann war man halt wieder still"

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Vor 75 Jahren eröffneten die Nazis in Dachau ihr erstes Konzentrationslager auf deutschem Boden. Im Interview sprechen der Überlebende Max Mannheimer, eine Dachauer Zeitzeugin und eine Schülerin über den Umgang mit den Greueln.

D. Mittler und M. Staudinger

"Die Vergangenheit ist nie tot, sie ist nicht einmal vergangen." Dieser Satz aus der Feder des amerikanischen Schriftstellers William Faulkner scheint auf Dachau zugeschnitten zu sein. Im März vor 75 Jahren wurde in der damaligen Marktgemeinde das erste offizielle Konzentrationslager der Nationalsozialisten auf deutschem Boden eröffnet. Von 1933 bis 1945 wurden hier mehr als 43.000 Häftlinge ermordet. Noch immer liegt der Schatten des Lagers über der Stadt.

Bis heute gilt das schmiedeeiserne Tor des KZ Dachau mit der Aufschrift "Arbeit macht frei" als Synonym des Schreckens. (Foto: Foto: dpa)

Über das schwierige Erbe sprechen der ehemalige KZ-Häftling und heutige Vorsitzende der Lagergemeinschaft Dachau, Max Mannheimer, 88, die Dachauerin Ludwika Zaidenstadt, 79, - sie erlebte als Kind die Häftlingsarbeitskommandos und heiratete später einen polnischen Dachau-Häftling - sowie die 19Jahre alte Dachauer Schülerin Marie-Sophie Stadler.

SZ: Noch heute wird erbittert über die Frage gestritten, was die Dachauer über die Greuel im KZ wussten. Frau Zaidenstadt, was wussten Sie denn davon?

Zaidenstadt: Ich bin Jahrgang 1929 und habe das als Kind mitbekommen. Man hat ja die Häftlinge gesehen, die zum Beispiel an den Straßen gearbeitet und Bäume gefällt haben. Da waren Bewacher mit dabei mit ihren Schäferhunden. Aber da war ja auch diese Propaganda: "Das sind Leute, die nicht in unsere Gesellschaft passen." Und so fort. Welche Greuel im Lager passiert sind, davon haben wir aber nichts mitbekommen.

SZ: Marie-Sophie, ist für Sie eine solche Aussage nachvollziehbar?

Stadler: Ich habe meine Großmutter gefragt, was sie wusste. Ihr Onkel war auch im KZ Dachau. Bei seiner Entlassung musste er unterschreiben, dass er draußen nicht darüber spricht. Meine Oma hat ihren Onkel gelöchert, aber er hat bis Kriegsende 1945 nichts gesagt. Ihm wurde offensichtlich im Lager eingebläut, dass ihn womöglich die eigenen Verwandten denunzieren. Und dann sei er schneller wieder im Lager, als er schauen könne.

Zaidenstadt: Selbst nach dem Krieg wollte mein Mann, der im KZ Dachau inhaftiert war, viele Jahre lang nicht über seine Erlebnisse sprechen. Er hat das jahrelang totgeschwiegen. Aber dann, 1995, ist bei ihm die Vergangenheit hochgekommen.

SZ: Max Mannheimer, wann konnten Sie denn das erste Mal über Ihre Erlebnisse im KZ sprechen?

Mannheimer: Im Jahre 1964 verlor ich meine zweite Frau durch Krebs. Bald darauf fing ich an, für meine damals 17-jährige Tochter alles aufzuschreiben. Im Jahr 1985 wurde ich von Barbara Distel, der Leiterin der Gedenkstätte Dachau, angeschrieben, ob ich mein Manuskript für die Dachauer Hefte zur Verfügung stellen würde. Ich sagte ja, und danach veränderte sich mein Leben schlagartig. Seitdem spreche ich in Schulen, Universitäten und kirchlichen Einrichtungen als Zeuge der Zeit - nicht als Ankläger.

Stadler: Ich bin froh darüber, dass junge Menschen heute noch Zeitzeugen begegnen können, die uns ihre Erlebnisse anschaulich erzählen. Ohne sie könnte man sich vieles gar nicht mehr vorstellen. In unseren Geschichtsbüchern wird die Zeit des Nationalsozialismus ziemlich emotionslos abgehandelt.

Mannheimer: Mit meinem Sohn und meiner Tochter habe ich nie über meine Erlebnisse gesprochen. Sie haben meine Erinnerungen gelesen. Als eine meiner Enkelinnen noch klein war, fragte sie mich: "Opa, was hast Du denn da für eine Nummer am Arm?" Sie hatte die Häftlingsnummer gesehen, die mir in Auschwitz eintätowiert worden war. Ich antwortete: "Das ist eine Telefonnummer." Und das Kind sagte nur: "Das ist aber komisch, dass du eine Telefonnummer auf den Arm schreibst." Inzwischen wissen sie, was es mit der Nummer auf sich hat.

SZ: Frau Zaidenstadt, wie Sie sagten, begegneten Ihnen in Dachau immer wieder Arbeitskommandos aus dem KZ. Wurden Sie nie Zeuge von Gewaltakten?

Zaidenstadt: Nein. Einmal erlebte ich sogar, wie mein Vater einen der Wachposten fragte, ob er nicht ein paar Kartoffeln oder ein paar Scheiben Brot für die Häftlinge hinlegen dürfe. Da hat der Posten geantwortet, dass er jetzt kurz wegschaut. Mein Vater hat die Sachen zwischen das geschlagene Holz reingeschoben. Das haben die Häftlinge dann genommen - gierig vor Hunger.

SZ: War Ihr Vater im Widerstand?

Zaidenstadt: Nein, der war zahlendes Parteimitglied der NSDAP. Da musste er reingehen, damit er 1936 als Arbeitsloser überhaupt Arbeit bekam. So ging es sehr vielen Leuten.

SZ: Und von diesen vielen Leute hatten keiner eine Ahnung, was im Lager passierte?

Zaidenstadt: Wenn man zu Hause als Kind erzählt hat, was man gehört hatte, dann hieß es oft: "Sag das ja nicht weiter, sonst werden wir alle eingesperrt." Einmal im Luftschutzkeller wurde im Beisein der Frau eines SS-Mannes erzählt, dass es in der Nachbarschaft des Lagers immer wieder so komisch rieche, so als würden Menschen verbrannt. Da ist die Frau des SS-Mannes regelrecht aufgegangen und hat geschrieen: "Was fällt Ihnen überhaupt ein, so etwas zu sagen?" Dann war man halt wieder still.

SZ: Wann wurde Ihnen bewusst, dass die NS-Propaganda Lügen verbreitete?

Zaidenstadt: Als ich am Kindergeburtstag von Ruth, einem jüdischen Mädchen, teilnahm. Zwei Tage später wurde mein Vater vorgeladen, wie er als Parteimitglied so etwas erlauben könne. Zu Hause gab es einen Riesenkrach, und da habe ich erstmals mitbekommen, dass da etwas nicht in Ordnung war. Schließlich wurden Ruth und ihre Eltern weggebracht. Wir dachten damals, die sind bestimmt umgekommen.

SZ: In Dachau war also schon damals in den Köpfen: Konzentrationslager bedeutet Mord.

Zaidenstadt: Nein. Was im Lager wirklich passiert ist, das haben wir nicht gewusst. Wir haben es ja nur von außen gesehen. Erst bei Kriegsende, als 16-jähriges Mädchen, sah ich dann den Zug aus Buchenwald mit den halbverhungerten Häftlingen und den vielen Toten. Ich war schockiert.

SZ: Max Mannheimer, Sie standen zu dieser Zeit auf der anderen Seite des Zauns. Wie haben Sie das überhaupt verkraftet?

Mannheimer: Ich sah in Birkenau meine Eltern das letzte Mal an der Rampe, in Auschwitz habe ich später einen Bruder verloren, insgesamt wurden sechs meiner acht Familienmitglieder dort ermordet. Ich wurde am 30.April 1945 von den Amerikanern befreit, habe aber nach dem Krieg viele Jahre an Depressionen gelitten. 1981 erlitt ich in Amerika einen Nervenzusammenbruch, ausgelöst durch ein an einer Mauer eingraviertes Hakenkreuz. Damals überprüfte ich vor dem Duschen, ob da wirklich Wasser rauskommt. Einige Jahre habe ich meine Vorträge nur mit Tabletten geschafft. Nur im Kino und beim Malen habe ich diese grauenhafte Zeit verdrängt. Die Depressionen waren das Schlimmste.

SZ: Frau Zaidenstadt, wurden Sie und Ihr Mann, der ebenfalls in Dachau als Zeitzeuge auftrat, in der Nachkriegszeit angefeindet?

Zaidenstadt: 1995, als mein Mann in der Gedenkstätte als Zeitzeuge aktiv wurde, kamen einige anonyme Anrufe.

SZ: Was haben diese Anrufer gesagt?

Zaidenstadt: Saujude, und so weiter. Aber ich habe das meinem Mann verschwiegen - fertig aus! Er ist vor sieben Jahren gestorben. Hoffentlich bleibt Max Mannheimer der Jugend noch lange erhalten.

Stadler: Es ist so unendlich wichtig, sich mit Geschichte zu beschäftigen. Noch heute passieren Greueltaten, immer wieder. Unsere eigene Geschichte lehrt uns, aufzupassen. Es ist gut, dass Schüler dieses Fach nicht abwählen können. So muss sich jeder auch mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen. Die Gedenkstätte ist der eindeutige Beweis dafür, dass die Verbrechen wirklich passiert sind. Wenn man das alles wegmacht, dann schweigt man es ja tot.

SZ: Herr Mannheimer, wie oft kommt es denn vor, dass Ihre Zuhörer einfach zumachen, wenn Sie von den erlebten Greueln erzählen?

Mannheimer: Ich mache es den Leuten leicht. Ich sage: In Berlin wurden 1500 Juden versteckt. Wäre ich kein Jude, ich weiß nicht, ob ich zu den Menschen gehört hätte, die den großen Mut bewiesen haben, Verfolgte vor den Nazis zu retten. Ja, ich gehe sogar noch weiter: Ich weiß auch nicht, ob ich den Befehl verweigert hätte, im Osten auf Juden zu schießen, so wie dies einige vom Hamburger Polizeibataillon 101 getan haben. Sie sehen, so mache ich es den Leuten wirklich leicht, zu verstehen, wie gefährlich eine Diktatur ist.

SZ: Verletzt es Sie, wenn Menschen heute auf das Leid der KZ-Häftlinge mit Gleichgültigkeit reagieren?

Mannheimer: Nun, ich bin kein Soziologe, und das Verhalten des Menschen ist halt oftmals so, dass ihm der Zahnschmerz eines anderen nicht weh tut. Ich selbst begreife mich als Reisenden in Sachen Humanität. Wenn diese Spirale des Hasses immer weiter geht, dann gibt es überhaupt kein Ende. Hass ist das Schlimmste, was im Menschen steckt. Ich kann trotz meiner Erlebnisse nur sagen: Ich hasse die Deutschen nicht.

© SZ vom 29.03.2008/aho - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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