Armes Oberstdorf:Sehenden Auges in die Pleite

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Seit Jahren hat der beliebte Touristenort Oberstdorf über seine Verhältnisse gelebt. Jetzt sitzt die Gemeinde auf 63 Millionen Euro Schulden.

Mike Szymanski

Im Rathaus von Oberstdorf brennt an diesem Donnerstagabend noch sehr spät Licht. Der Marktgemeinderat tagt, und die Tagesordnung bietet den Zuhörern wenig Erbauliches.

So wie die Skispringer auf der Schattenbergschanze im Hintergrund ins Tal schauen - zum Beispiel während der Vierschanzen-Tournee - so blickt auch die Gemeinde Oberstdorf im Vordergrund in den Abgrund. (Foto: Foto: ddp)

So steht unter Punkt 3 an, den geplanten Neubau des Busbahnhofs zu begraben. "Aus Kostengründen", wie es in der Vorlage heißt. Zuvor hatten sich die Gemeinderäte schon anderthalb Stunden vorschwärmen lassen, welche Vorzüge ein neues Biomasseheizkraftwerk hätte.

Als der Ingenieur jedoch erklärte, das Projekt koste 13 Millionen Euro, machten alle nur lange Gesichter. Bürgermeister Laurent Mies hat die Hände gefaltet. Mit dem Kruzifix an der Rückwand sieht es fast so aus, als würde er beten.

Zur Zeit macht es keinen Spaß, Rathauschef in Oberstdorf zu sein. Die Marktgemeinde ist praktisch pleite. Einen Schuldenberg von knapp 63 Millionen Euro schiebt der bekannte Urlaubsort im Süden der Republik vor sich her. Täglich fallen 24.000 Euro an Zins und Tilgungsleistungen an. "Es ist keine freie Finanzspanne mehr vorhanden", heißt es in einem Bericht an den Gemeinderat, der mit "Kassensturz" überschrieben ist. Das Gesamthaushaltsvolumen liegt bei 48 Millionen Euro. Bürgermeister Mies hatte den Kämmerer gebeten, die Zahlen auf den Tisch zu legen. Anschließend verhängte er eine Haushaltssperre. Es war seine erste bedeutende Amtshandlung als Chef der Marktgemeinde.

Die Wahl eines Zugereisten

Bei der Kommunalwahl im März hatten die Oberstdorfer Mies zu ihrem neuen Bürgermeister gewählt. Aus dieser Personalentscheidung konnte man schon ablesen, dass in Oberstdorf etwas nicht in Ordnung ist. Mies, parteilos, ist zwar ein smarter Jurist von 42 Jahren, dass er aber den CSU-Bürgermeister Thomas Müller nach nur sechs Jahren aus dem Amt hebeln würde, haben ihm nur wenige zugetraut. Denn Mies ist ein Zugereister, aufgewachsen in Hamburg. Obwohl er schon zehn Jahre in Oberstdorf lebt, ist er für viele Bürger im Ort ein Nordlicht geblieben.

Einen wie Mies hat man in Oberstdorf gerne als Urlaubsgast. Aber gleich als Bürgermeister? Er erhielt knapp 60 Prozent der Stimmen. Mies interpretiert das Ergebnis als Auftrag, einiges anders als seine Vorgänger zu machen. Bei denen saß in der Vergangenheit das Geld nämlich immer ziemlich locker.

Als Bürgermeister Eduard Geyer 2002 nach 29 Dienstjahren die Marktgemeinde an Thomas Müller übergab, hatten sich bereits 58 Millionen Euro Schulden angehäuft. Auf Pump hatte die Marktgemeinde kräftig in ihre Infrastruktur investiert. Es wurde Nützliches wie ein Wasserkraftwerk gebaut und die umliegenden Täler wurden an die Kanalisation angeschlossen. Aber auch in Prestigeprojekte wie ein gigantisches Eisstadion mit drei Hallen hatte Geyer Geld gesteckt und überdies ein stattliches Hallenbad für die Urlauber bauen lassen.

Finanzpolitik gehorchte in Oberstdorf eigenen Gesetzen. Als der Gemeinderat dem Bürgermeister Geyer mal kein Geld mehr für weitere Projekte bewilligen wollte, trat dieser vorübergehend gar in einen Sitzungsstreik. Und Nachfolger Thomas Müller begann seine Amtszeit 2002 mit der Parole "wir wollen uns nicht zu Tode sparen". Er führte Oberstdorf in das nächste finanzielle Abenteuer: die Nordische Ski-WM 2005.

Es ist nicht zu übersehen, welche Rolle der Wintersport in Oberstdorf bis heute spielt. Am Fuße des Schattenbergs erhebt sich weithin sichtbar eine Skisprung-Arena, mit der Oberstdorf die Sportwelt ins Staunen versetzt. Touristen müssen Eintritt zahlen, wenn sie sich die moderne Anlage anschauen wollen. Hier startet jedes Jahr die Vierschanzentournee, die Oberstdorf als Wintersportort international erst bekannt gemacht hat. Aber die Oberstdorfer wollten mehr. Mit der Nordischen Ski-WM 2005 wollten sie das "Wembley der Alpen" werden.

Die 23 Millionen Euro teure Anlage samt neuem Langlaufstadion konnte sich das klamme Oberstdorf eigentlich nicht leisten. Obwohl Bund und Land beträchtliche Zuschüsse gaben, legte der Markt Oberstdorf noch Schuldscheine auf und pumpte sich Geld bei Privatleuten. "Die WM erschließt uns neue Märkte", frohlockte damals Bürgermeister Müller. Und alle Beteiligten beglückwünschten sich zu ihren "kreativen Finanzierungswegen".

Wenn man heute die Verantwortlichen fragt, was aus dem erhofften Boom nach der Nordischen Ski-WM geworden ist, bekommt man Sätze wie diese zu hören: "Die Nachhaltigkeit ist nicht eingetreten", sagt etwa der Oberallgäuer Landrat Gebhard Kaiser (CSU), der zu den größten Befürwortern der WM gehörte. Und auch Bürgermeister Mies zuckt mit den Schultern: "Es ist ernüchternd. Im Rückblick haben sich all die Erwartungen nicht erfüllt." Die Oberstdorfer waren den Verheißungen der Marketingleute und Sportfunktionäre aufgesessen.

Ein Jahr nach der Ski-WM sank die Zahl der Übernachtungen sogar auf ein Langzeittief von unter 2,3 Millionen. Viele Betten blieben leer. Statt dank der WM Geld zu verdienen, stöhnt die Marktgemeinde heute unter der Last der immensen Folgekosten. Mit etwa 300000 Euro im Jahr subventioniert die Marktgemeinde allein die neu errichteten WM-Sportanlagen, die sich ursprünglichen Plänen zufolge längst selbst tragen sollten.

"Wir sind zum Finanzier des Sports geworden", beklagt Mies, der künftig neue Großwettbewerbe mehr auf ihren wirtschaftlichen Nutzen prüfen will. Ihm fehlt nämlich das Geld, das dafür ausgegeben wird, an anderer Stelle.

Die Folgen des strikten Sparkurses hat als erster Augustin Kröll zu spüren bekommen. Er ist der Aufsichtsrats-Chef der Nebelhornbahn, die seit 1930 Touristen direkt aus dem Ort auf das 2224 Meter hohe Nebelhorn befördert. An diesem Morgen stehen nur wenige Bergwanderer an der Talstation an. Es wird noch einige Stunden dauern, bis der Himmel aufreißt und die Urlauber zur Seilbahn lockt. Kröll nennt die Bergbahn ein "lebenswichtiges Organ für Oberstdorf". Wenn man es so sieht, dann macht dieses Organ jetzt Probleme.

Die Bahn wurde zuletzt in den siebziger Jahren erneuert. Und als Kröll mit einer Reisegruppe die Kabine betritt, versteht man, warum er gerne eine neue Bahn hätte. Die Gruppe muss stehen und auf dem Weg zum Gipfel auch noch umsteigen. "Komfortabel ist das nicht", sagt er. Bei schönem Wetter stehen Gäste anderthalb Stunden lang an.

Noch in diesem Jahr wollte er eigentlich eine neue Bahn für 28 Millionen Euro in Auftrag geben. Aber die Gemeinde drückt auf die Bremse. Statt ursprünglich fünf Millionen Euro will Bürgermeister Mies nur noch 3,5 Millionen beisteuern. "Mehr ist zur Zeit nicht drin", sagt der Gemeindechef. Jetzt ruhen auch diese Neubaupläne, und Mies muss sich fragen lassen, wo der Sparkurs noch hinführen soll.

Unter seinem Vorgänger Müller hatte sich Oberstdorf noch für 14 Millionen Euro einen neuen Kurpark samt Oberstdorf-Haus geleistet, die Anlaufstelle für Touristen. Ein protziger Bau im Ortszentrum, alles vom Feinsten. Im ersten Stock hat auch die Verwaltung ihre Büros. Das Zimmer vom Bürgermeister ist vergleichsweise klein. Mies will keine Angriffsflächen bieten, wenn er den Sanierer gibt. "Wir haben in der Vergangenheit nicht optimal gewirtschaftet" - so umschreibt er die Zeit, als offenkundig die Devise galt: Geld spielt keine Rolle.

Vielleicht musste es erst so schlimm kommen. "Die Zeit ist jetzt reif für Veränderungen", sagt Bertram Pobatschnig, der Tourismusdirektor. Denn auch auf der Einnahmenseite gibt es Probleme. Die Gäste bleiben nicht mehr so lange. Und nach Oberstdorf kommen vor allem ältere Touristen, jene, die immer schon kamen. "Wir haben einiges an Arbeit vor uns", sagt Pobatschnig.

Das Arbeiten wieder lernen

Was er damit meint, ist in der Fußgängerzone zu besichtigen. Dort putzen die Geschäftsleute die Optik aus den Siebzigern. Es gibt Pensionsbetreiber, die Internet für neumodischen Schnickschnack halten. "Früher haben die Familien das Geld mit beiden Händen gescheffelt, die nächste Generation hat kaum investiert, und jetzt lernen viele erst wieder, dass sie hart arbeiten müssen", sagt Pobatschnig. Erst unter Bürgermeister Mies werden die Probleme deutlich benannt.

"Es geht mühsam voran", erzählt Pobatschnig, 56, der zuvor am Wörthersee gearbeitet hat. Mies will jetzt eine Sanierungsgruppe installieren, die prüft, wo gespart werden kann. Auf die Bürger kommen harte Zeiten zu. Grundstücke im Wert von 2,4 Millionen Euro hat die Gemeinde in ihrer Not bereits verkauft. Trotzdem fehlen im Etat 500.000 Euro, weil Gewerbesteuer und Zuschüsse geringer ausfallen. Und Mies will Schulden abbauen. Ein Anfang. Immerhin.

© SZ vom 23.10.2008/gba - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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