Tata Nano:Sorge um den Wunderwagen

Indiens Großkonzern Tata setzt alle Hoffnung in den Nano, das billigste Auto der Welt. Doch es ist spät dran und lebt vor allem vom Mythos, der es umgibt.

Oliver Meiler

Da steht er nun, schmal und schmächtig und viel gelobt, in einem Showroom in Gurgaon bei Delhi: der Nano, der Kleine von Tata Motors. Ein Auto wie eine Offenbarung. Der Verkäufer empfängt mit dem gebotenen Überschwang: "Darf ich vorstellen, das Weltwunderauto!" Es drängen sich auch an diesem vierten Tag seit der Weltpremiere viele Neugierige am Eingang, so lange hatten sie auf diesen Moment warten müssen, livrierte Bedienstete tragen Mineralwasser auf für die Kundschaft. Auf einem Plakat steht: "Now we can." Den Werbefachleuten von Tata schien die Anlehnung an Barack Obamas Wahlkampfslogan wohl gerade historisch genug.

Tata Nano: Weltpremiere in Delhi: Seit wenigen Tagen steht der Nano zum Anfassen in einigen Autogeschäften des Landes.

Weltpremiere in Delhi: Seit wenigen Tagen steht der Nano zum Anfassen in einigen Autogeschäften des Landes.

(Foto: Foto: Getty)

Der Nano, nur drei Meter lang, ein einziger Scheibenwischer, vier Plätze, 33 PS, das billigste Auto aller Zeiten, soll Indien revolutionieren. Er ist der Volkswagen der Inder, das "People's car", der Motor der Träume von Millionen Familien, die heute noch Motorrad fahren, zuweilen zu viert auf einem Sattel und bei jedem Wetter. Die Wirtschaftszeitung The Economic Times schrieb dieser Tage auf die erste Seite: "Eine Nation kann ihre Euphorie kaum bändigen."

Mit 100.000 Rupien ist der Nano so billig wie ein Motorrad. Aber mit Dach und vier schmalen Türen. Hier im Showroom in Gurgaon, einem modernen Vorort der indischen Hauptstadt, steht das "Topmodel", der Nano LX. Es hat sogar Klimaanlage, Zentralverriegelung, eine bessere Federung als die Grundausführung, das Chassis glänzt golden. Doch auch das Topmodel fühlt sich zerbrechlich an, das Lenkrad ist klein, der Kofferraum fasst höchstens Handgepäck. Alles ist sehr "basic".

Mehr lässt sich nicht sagen, denn Testfahrten sind nicht möglich. Nirgends in Indien. Und trotzdem haben in den ersten vier Tagen im ganzen Land mehr als 50.000 Kunden für 300 Rupien, rund 4,50 Euro, ein Buchungsformular für den Nano gekauft. Am Ende der Lancierungsphase, in zwei Wochen, sollen es dann eine Million sein. Der Verkäufer in Gurgaon glaubt gar, dass "fünfzig Lakh", also fünf Millionen, solcher Buchungsformulare verkauft würden. "Ein wahrer Rausch ist im Gange", sagt er.

Die ersten 30.000 werden verlost

Als gebucht gilt der Wagen aber erst, wenn 80 Prozent des Preises bezahlt sind. Und selbst dann ist sich der Käufer seines Wagens noch nicht sicher. Es gibt ihn nämlich noch nicht wirklich, den Nano. Noch ist er nur ein Ausstellungsmodell. Unter all jenen, die ihn nun buchen, werden im Juni 30.000 ausgelost, die den Wagen dann tatsächlich im Sommer erhalten. Nicht unbedingt in der gewünschten Farbe und mit den gewünschten Optionen. Aber einen Nano. Alle anderen müssen sich einige Monate mehr gedulden, die meisten bis nächstes Jahr.

Tata Motors hat nämlich, bei aller echten Euphorie, große Probleme. Der Nano ist spät dran, viel zu spät. 2003 geplant und 2008 von Konzernchef Ratan Tata erstmals präsentiert, hätte der Wagen bereits im vergangenen Herbst auf den Markt kommen sollen. Bis dahin, so dachte man, würde das Werk in Westbengalen auf Hochtouren Nanos produzieren und die Lust der wachsenden indischen Mittelschicht befriedigen.

Doch dann brachte ein Protest über die Landenteignung von Bauern den Bau der Fabrik in Singur bei Kalkutta zum Stillstand - kurz vor dessen Vollendung. Tata brach das Projekt, das Tausende Arbeitsplätze geschaffen hätte, entnervt ab und zog nach Gujarat, einem Bundesstaat ganz im Westen des Landes, kaufte dort ein neues Stück Land für ein neues Werk. Dieses neue Werk wird aber frühestens Ende 2010 in Betrieb genommen werden. In der Zwischenzeit stellt Ratan Tata sein "Wunderauto" in viel geringerer Kadenz als geplant auf leeren Linien alter Fabriken her, die sonst andere Gefährte für den Konzern produzieren: Busse, Lastwagen, größere Personenwagen - Tata Motors ist die Nummer zwei unter Indiens Autobauern und beschäftigt 35.000 Angestellte. Sie bangen nun um ihren Job.

Zu Beginn dieses Jahres schrieb Tata in einem Brief an die Mitarbeiter des großen Mischkonzerns, man müsse sich auf "harte Entscheide" gefasst machen. Weltweit sind das 350 000. Sie arbeiten im Telekomsektor, in der Softwareindustrie, in Minen, Banken, auf Getreidefeldern, in Hotels, Teeplantagen und, eben, in Autowerken von Tata. Es sei wohl das schwierigste Jahr in der 140-jährigen Firmengeschichte, sagte Tata.

Verlorene Fortüne

Der Stimmungswandel hat plötzlich eingesetzt. Denn noch vor einem Jahr hatte es den Anschein, als schwinge sich Tata, mit 62 Milliarden Dollar Jahresumsatz der größte Privatkonzern Indiens, nach einer Serie spektakulärer Übernahmen im Ausland zu einem globalen Player auf. Der niederländisch-britische Stahlkonzern Corus schien gut zu Tata Steel zu passen. Die legendäre Teemarke Tetley passte zu Tatas Teegeschäft. Die Nutzfahrzeuge der südkoreanischen Daewoo erweiterte die Palette der eigenen Traktoren und Laster. Und die Marken Jaguar und Land Rover, Luxussymbole aus dem Land der früheren Kolonialmacht, sollten den Glamourfaktor des Konzerns erhöhen. Und gleich auch ein bisschen den indischen Nationalstolz, mochten die Marken auch etwas angeschlagen sein. "Das Empire schlägt zurück", schrieben die Zeitungen in England.

Doch der 71-jährige Ratan Tata, ein reservierter Junggeselle und hoch respektierter Unternehmer, der den Familienbetrieb 1991 übernommen und lange Zeit mit Fortüne geführt hatte, missglückte in jüngster Vergangenheit sowohl das Timing der Operationen als auch die Strategie der Expansion. Er galt immer als konservativer Buchhalter, nie als aggressiver Expandierer, der seine Zukäufe auf Pump tätigen würde. Analysten rechneten ihm vor, dass er Corus, Jaguar und Land Rover überbezahlt habe. Doch solange die Geschäfte wuchsen, hörte kaum jemand hin. Tata wurde in den vergangenen Jahren mehrmals zum "Inder des Jahres" gewählt. Immer mit großem Vorsprung.

Nun steht Tata mit Schulden in der Höhe von rund 18 Milliarden Dollar da. Einen Kredit über zwei Milliarden Dollar muss Tata Motors bereits im Juni zurückbezahlen. Und da die Einkünfte der Konzerngruppe mit ihren rund hundert Firmen, die im Gegensatz zu den meisten indischen Unternehmen zu mehr als der Hälfte von ausländischen Märkten abhängen, unter der Wirtschaftskrise schrumpfen, werden die Zahlungspflichten zur großen Last. Die Lage ist ernst. In Großbritannien hat Tata beantragt, dass der Staat Jaguar und Land Rover stütze. Bei den Banken soll er Mühe bekunden, neue Kredite und Fristen zu erhalten.

Der Nano gilt da als Hoffnungsschimmer. In Indien fragt man sich nur leise, als handele es sich um eine Entwürdigung des heiligen Moments, ob der kleine Wunderwagen den Konzern wohl tatsächlich aus seinen großen Problemen führen könne. Trotz der Lieferprobleme, trotz der Verspätung, trotz der Wirtschaftskrise. Und ob der Nano dereinst auch in Europa, wo er in einigen Jahren mit Airbag und Schnickschnack auf den Markt kommen soll, eine Chance hat. Plötzlich scheint nichts mehr garantiert zu sein.

Nur der Verkäufer im indischen Gurgaon bei Delhi lässt sich nicht beirren: "Schauen Sie nur", sagt er, "diese Beinfreiheit im Fond. Und wenden lässt er sich sogar auch ohne Servolenkung einfach wunderbar. Ist er nicht großartig, der Nano?"

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