Stauforschung:Der Flaschenhals im Kopf

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In Reih und Glied: Computermodelle und Strömungsphysik können nicht gegen Verkehrsstaus helfen, solange die Menschen Fehler machen.

Josephina Maier

Das zweite Juli-Wochenende dieses Jahres hat für die meisten Urlaubsfreudigen mit Warten begonnen. Auf über 70 Autobahnkilometern Länge bildeten sich alleine in Bayern Staus. Dabei haben die Sommerferien im Freistaat noch gar nicht begonnen - die Ursache des Verkehrsinfarkts war der Ferienstart in fünf anderen Bundesländern. Fast fünf Milliarden Stunden stehen Deutschlands Autofahrer jedes Jahr im Stau. Die Schätzungen der dadurch jährlich entstehenden Kosten liegen zwischen zehn und 100 Milliarden Euro. Weltweit arbeiten inzwischen Verkehrsexperten daran, die Ursachen von Staus zu verstehen.

Fast fünf Milliarden Stunden stehen Deutschlands Autofahrer jedes Jahr im Stau. (Foto: Foto: iStock)

Übereinstimmend kommen Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass sich jeder Stau auf einen Flaschenhals zurückführen lässt. Dieser kann jedoch unterschiedlicher Art sein. "Dazu zählen nicht nur echte Engpässe, wie sie durch eine Baustelle oder einen Unfall entstehen", sagt Martin Treiber, Experte für Verkehrsdynamik an der Technischen Universität Dresden. Auch eine Auffahrt oder ein Anstieg können wie ein Flaschenhals wirken und Staus auslösen. Bei einer Auffahrt mag das noch einleuchten. Wenn von einer Seite viele zusätzliche Autos auf die Fahrbahnen drängen, wird es eben eng.

Aber wie kann ein simpler Anstieg als Hindernis wirken? "Die wenigsten Fahrer geben mehr Gas, wenn es bergauf geht", erklärt Michael Schreckenberg, Experte für die Physik von Transport und Verkehr an der Universität Duisburg-Essen. "Dadurch werden sie langsamer und die nachkommenden Autos müssen abbremsen." So verschieden die Flaschenhals-Situationen auf den ersten Blick aussehen, eines haben sie alle gemeinsam: "Die Fahrzeugdichte auf der Straße erhöht sich", sagt Treiber.

Komplettstillstand in 60 Sekunden

Dass dieses Zusammenrücken ausreicht, um von einer Sekunde auf die nächste einen Stau auszulösen, hat im Frühjahr dieses Jahres eine japanische Studie bewiesen. Stauforscher der Universität Nagoya ließen 22 Probanden mit Fahrzeugen auf einem 230 Meter langen, völlig hindernisfreien Rundkurs im Kreis fahren. Die Versuchsteilnehmer sollten lediglich eine Geschwindigkeit von 30 Kilometern pro Stunde halten. Das Ergebnis war frappierend. Obwohl keiner der Testfahrer einen groben Fehler beging, kam die Kolonne nach nicht einmal einer Minute ins Stocken. Zehn Meter Platz pro Auto war offenbar zu wenig, sodass sich die kleinsten Abweichungen von der Geschwindigkeit zu einem Komplettstillstand aufschaukelten ( New Journal of Physics, online, 2008).

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Der Stau als Alltag
:Stau-Erlebnisse

Warum dem Stau ausweichen wollen? Selbst stehend bietet eine Kolonne noch genügend Möglichkeiten für kollektive Erlebnisse.

Ein Video des Versuchs zeigt in Zeitlupe, was passierte, nachdem ein Fahrer kurzzeitig langsamer wurde. Der nachfolgende Proband musste nach der Reaktionszeit von etwa einer Sekunde bereits stark bremsen, um nicht zu dicht aufzufahren. Nach kurzer Zeit stauten sich alle Fahrzeuge. "Der Versuch beweist, dass frei fließender Verkehr bei einer kritischen Dichte instabil wird", sagt Treiber. "Ab diesem Punkt genügt eine winzige Unaufmerksamkeit eines einzigen Fahrers, um einen Stau auszulösen."

Aus dem Nichts

Michael Schreckenberg hat berechnet, dass sich der Stau vom Ort seiner Entstehung mit einer Geschwindigkeit von 15 Kilometer pro Stunde wie eine Welle entgegen der Fahrtrichtung fortsetzt. Das erklärt, wieso viele Staus scheinbar aus dem Nichts entstehen. Nach kurzer Zeit hat sich die Welle so weit vom Entstehungsort wegbewegt, dass die betroffenen Fahrer den ursprünglichen Auslöser nicht mehr erkennen.

"Leider behindern viele Fahrer durch ihre Fahrweise dann auch noch die Auflösung des Staus", sagt Schreckenberg. Beim Wechsel zwischen Anfahren und Halten, verpasst man zum Beispiel leicht den Moment, an dem der Verkehr wieder frei fließt. Doch gerade die vordersten Fahrer sollten zügig beschleunigen, sobald die Bahn frei ist. "Außerdem schließen die meisten im Stau zu dicht auf", sagt der Physiker. Damit nehme man sich selbst aber die Zeit, angemessen zu reagieren.

Spurwechsel zwecklos

Wenn das Auto vor einem langsamer werde, müsse man scharf abbremsen und löse hinter sich eine neue Stopp-Welle aus. Ebenso tabu wie Drängeln sollte Schreckenberg zufolge das Spurwechseln im Stau sein. "Viele achten dabei zwar auf den Sicherheitsabstand nach vorne, halten ihn aber nach hinten nicht ein." Auch wer knapp vor einem anderen die Fahrbahn wechsle, zwinge den Hintermann zum Bremsen. Dabei verkürzt der Spurwechsel im Stau die Fahrzeit keineswegs. "Fahrbahnwechseln bringt erwiesenermaßen keinen Vorteil", sagt Schreckenberg, "ob Sie wollen oder nicht, Sie fahren mit den gleichen Nachbarn aus dem Stau heraus, mit denen sie hineingefahren sind."

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Obwohl solche Tatsachen längst belegt sind und die Verkehrsforscher theoretisch für jeden Stau den zugehörigen Auslöser identifizieren könnten, ist keine Patentlösung für das Problem in Sicht. Das hat menschliche Gründe. "Um bei einer kritischen Verkehrsdichte zu verhindern, dass ein Stau entsteht, müsste sich jeder einzelne Fahrer korrekt verhalten", sagt Schreckenberg. "Leider können wir Menschen aber nicht wie Fischschwärme alle gleichzeitig unsere Bewegungsrichtung oder die Geschwindigkeit ändern." Weil praktisch immer jemand aus der Reihe tanzt, führen Belehrungen über das richtige Fahrverhalten kaum zum Erfolg.

Pro Tempolimit

Viele Lösungsansätze wären deswegen mit Zwängen verbunden. Ein allgemeines Tempolimit auf Autobahnen würde nicht nur die Zahl der Verkehrstoten reduzieren, sondern auch die staufördernden Geschwindigkeitsunterschiede entschärfen. Viele hektische Bremsmanöver und somit potentielle Flaschenhälse wären nicht mehr nötig. "Außerdem würde für viele der Anreiz zum Spurwechseln wegfallen", sagt Treiber. Sein Duisburger Kollege Schreckenberg schlägt gar ein Spurwechselverbot im Stau vor. "Gerade vor Engstellen ist das effektiv", sagt Schreckenberg. "Das Verbot erzwingt, dass die Fahrer sich im Reißverschlussverfahren in die Engstelle einordnen, statt lange vorher auf die vermeintlich richtige Spur zu wechseln."

Mindestzeiten für Grünphasen

Technisch anspruchsvoller wäre ein Verfahren, das den Zufluss an den Auffahrten kontrolliert. Im Ruhrgebiet wurden vor der Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2006 Ampeln aufgestellt, die je nach Verkehrsaufkommen mehr oder weniger Fahrzeuge auf die Autobahn ließen. In amerikanischen Ballungszentren wie um Los Angeles ist das bereits üblich. "Dieser Ansatz ist vor allem in Grenzsituationen wirksam, wenn die Verkehrsdichte gerade auf der Kippe steht", sagt Treiber. Eine Zuflusskontrolle dieser Art verhindert allerdings bislang ein Passus in der deutschen Straßenverkehrsordnung. Dort sind Mindestzeiten für Grünphasen von Ampeln vorgeschrieben.

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Wenn es nach Michael Schreckenberg geht, liegt die Zukunft der Stauforschung aber ohnehin nicht darin, die Entstehung von Staus zu verhindern. "Wichtig ist vor allem, dass die Fahrtzeit berechenbar wird, sagt der Verkehrsphysiker. "Ich will doch in Wirklichkeit gar nicht wissen, ob ich in einen Stau hineinfahre, sondern vielmehr, wann ich an meinem Ziel ankomme." Um Reisezeiten zuverlässig berechnen zu können, müssten die Verkehrsforscher aber zuvor einen großen Unsicherheitsfaktor in den Griff bekommen: die Reaktion der Fahrer.

Selbstzerstörende Prognose

Wenn sich nämlich alle nach einer Voraussage richten und den berechneten Stau vermeiden, entsteht er gar nicht erst. Stauforscher bezeichnen diesen Sachverhalt als selbstzerstörende Prognose. "Auf der Straße gewinne ich nur, wenn ich zur Minderheit gehöre", sagt Schreckenberg. Selbst ein noch so gutes Warnsystem funktioniert nur so lange, bis die Mehrheit der Autofahrer damit ausgestattet ist. Und eine Technik, die flächendeckend eingesetzt werden soll, müsste die Reaktion der Fahrer auf die Mitteilungen einberechnen.

Keine Entspannung in Sicht

Für die Stauforscher gibt es also weiterhin viel zu tun. Eine Entspannung auf den Autobahnen ist für die nächsten Jahre nicht in Sicht, vor allem nicht während der Ferienzeiten. "Vielleicht müssen wir einfach auf den demographischen Wandel warten", meint Schreckenberg. "Wenn im Jahr 2050 nur noch 65 Millionen Menschen in Deutschland leben, erledigt sich das Stauproblem von alleine." Martin Treiber verweist dagegen auf eine einfache und billige Alternative zu Navigationssystemen: "Wenn man den Fahranfängern in der Fahrschule beibringen würde, sich im Stau richtig zu verhalten, könnte das schon viel bewirken."

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© SZ vom 17.07.2008/jw - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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