Schienennetz in Lateinamerika:Letzter Zug nach Nirgendwo

In Lateinamerika verschwindet die einst ruhmreiche Eisenbahn - warum die Argentinier die Züge mit Steinen bewerfen und die Nordamerikaner die Straße bevorzugen.

Sebastian Schoepp

Der Zug zu den Wolken verlässt den Bahnhof von Salta dreimal in der Woche morgens um sieben. Aus den Lautsprechern tönt andine Flötenmusik, viele Fahrgäste haben Kühltaschen mit Brotzeit und Bier mitgebracht. Im Sanitätswagen macht die medizinische Crew die Sauerstoffflaschen klar. Es wird eine lange Fahrt. 16 Stunden benötigt die 40 Jahre alte General-Electric-Diesellok, um den Tren a las Nubes 230 Kilometer weit und mehr als 3000 Höhenmeter hoch hinauf in die nordargentinischen Anden zu ziehen. Auf den ersten Kilometern aber fühlt man sich wie im Panzerzug aus dem Film "Dr. Schiwago", denn: Während der Fahrt durch die Vororte müssen metallene Blenden vor die Fenster gezogen werden. Warum, das erklärt Schaffner Nelo Pañagua: "Die Leute hier verstehen den Zug nicht und werfen mit Steinen."

Tren a las Nubes; iStock

Der Prunk der zwanziger Jahre ist verschwunden - heute zieht eine 49 Jahre alte Diesellok den Touristenzug "Tren a las Nubes".

(Foto: Foto: istock)

Meisterwerke der Ingenieure

Wie auch sollen unterernährte Kinder und arbeitslose Jugendliche in den Armenvierteln verstehen, warum in aller Frühe ein Zug mit schrillem Pfeifen vorbeirattert, den sie sowieso nie nehmen werden? 160 Dollar kostet die Fahrt für Ausländer, 100 Dollar für Argentinier - das leisten sich nur die Reichen aus Buenos Aires. Und obendrein fährt dieser Zug nirgendwo hin. Früher führte die Strecke mal ins chilenische Antofagasta am Pazifik, auf die andere Seite der Anden. Jetzt endet die Fahrt am Viadukt La Polvorilla in 4144 Metern Höhe - wer in der dünnen Luft noch gehen kann, steigt kurz aus und fotografiert die Brücke. Dann zuckelt der Zug durch Salzwüsten und staubige Einöden voller Kakteen zurück nach Salta.

Touristenzüge wie der argentinische Tren a las Nubes oder der nach dem Entdecker Machu Picchus benannte Hiram Bingham in Peru sind Überbleibsel des einst gewaltigen lateinamerikanischen Schienennetzes. Gleise durchquerten Urwälder, Andentäler und Wüsten. Sie transportierten Menschen, Bananen, Salpeter, Zuckerrohr, Erz. In Peru veränderte der Eisenbahnbau die Bevölkerungsstruktur, er brachte die Asiaten ins Land. Der Tren do Pantanal erschloss die Weite des Mato Grosso in Brasilien.

Ohne Zahnräder

Gewaltige Ingenieurleistungen waren das. Der Tren a las Nubes kommt ohne Zahnräder aus, die steilsten Stücke überwand Ingenieur Ricardo Maury in den zwanziger und dreißiger Jahren, indem er sich Ziegen und Vögel zum Vorbild nahm. Er baute einen Zickzackkurs wie bei Ziegenpfaden, der Zug stößt vor und zurück, um an Höhe zu gewinnen; Spiralkehren ahmen den Steigflug der Schwalben nach. Die Stahlteile für das Viadukt La Polvorilla, 220 Meter lang und so hoch wie ein 20-stöckiges Haus, wurden aus Italien über den Atlantik verschifft.

Ära der Stilllegung

Argentinien allein verfügte in den dreißiger Jahren mit 43.000 Kilometer Schiene über ein größeres Zugnetz als die meisten Länder Europas, heute wird gerade noch ein Fünftel davon befahren. "Die Eisenbahn war der Schlüssel zur Entwicklung des Landes", schrieb der Schriftsteller Raúl Scalabrini Ortiz. Gebaut wurde sie meist von britischen Firmen. 1946 verstaatlichte Präsident Juan Domingo Perón die Bahn, es war seine Form von "Entkolonialisierung". Was dann passierte, ist symptomatisch für Lateinamerika. Ende der fünfziger Jahre holte die Regierung US-amerikanische Berater ins Haus. "Wir tauschten das britische gegen das nordamerikanische Imperium", schreibt El Reportero Ferroviario, ein Internetdienst von Eisenbahnfreunden, "und Nordamerikaner mögen keine Schienen." Sie bevorzugen Laster, Autos, die Straße.

Ära der Stilllegung

Die Ära der Stilllegungen begann. Der neoliberale Präsident Carlos Menem löste die Staatsbahn in den neunziger Jahren einfach auf und verteilte die Trümmer an Privatunternehmen. Das hatte den - beabsichtigten - Nebeneffekt, dass die mächtigen Eisenbahnergewerkschaften zerschlagen waren. 50.000 Menschen wurden arbeitslos. Bahnkonzessionen wurden fortan an Regierungs-Spezln vergeben, staatliche Millionensubventionen versickerten in dunklen Kanälen, Gleise wurden demontiert, Loks nach Mali verhökert, Bahnhöfe zu Bars umgebaut. Nur im Großraum Buenos Aires fahren noch Züge, aber der Service ist so schlecht, dass kürzlich Pendler aus Wut Zuggarnituren in Brand setzten.

Woanders ist es noch schlimmer. Die Neun-Millionen-Metropole Lima in Peru versinkt täglich in einem unfassbar chaotischen Straßenverkehr. Den öffentlichen Transport besorgen Schwärme stinkender, verbeulter japanischer Kleinbusse, die alle Straßen verstopfen. Fahrten über Land in klapprigen ausrangierten Schulbussen dauern Tage und Nächte. Die Carretera Central über die Anden ist eine Todesstrecke, Lastwagen mit qualmenden Bremsen karren Schürfgut aus den Minen über halsbrecherische Spitzkehren. Wracks in den Schluchten erinnern an den Film "Lohn der Angst". Immer wieder unterquert man allerdings Viadukte wie aus einem Tim-und-Struppi-Heft: Eisenbahnbrücken. Es gäbe also eine Alternative. Doch der reguläre Fahrgastbetrieb wurde vor langer Zeit eingestellt. Oft verhindert die mächtige Lobby der Spediteure die Modernisierung der Konkurrenz auf Schienen.

Gewaltige soziale Folgen

Die Folge: In Argentinien gibt es pro Jahr fast 10.000 Verkehrstote, bezogen auf die Einwohnerzahl mehr als in Indien. "Der Massenverkehr in unseren Ländern ist ein Desaster", gab Norberto Rosendo, Chef eines Komitees zur Rettung der Eisenbahn, der Nachrichtenagentur CNA zu Protokoll. Und das Sterben der Bahn hat gewaltige soziale Folgen: Landstriche veröden, Siedlungen entlang der Gleise sind Geisterstädte. 800 Dörfer wurden in Argentinien in den letzten Jahren entvölkert, ergab eine demographische Studie, die die Zeitung Clarin zitiert. Die Eisenbahn sei ein Symbol, wie sehr der Nationalstaat sich selbst zerstört habe, sagt Rolando Maggi, Sprecher der Eisenbahninitiative von Rosario. Den Bürgern sei vorgemacht worden, das Auto sei das einzig wahre Fortbewegungsmittel, sagt Maggi. Dabei hätten die meisten Argentinier gar keines.

Wie ein Dinosaurier

Juan Carlos Cena, Ex-Eisenbahner und Schriftsteller, schimpft über das "Märchen vom Defizit", das Züge angeblich verursachten. Die sozialen Kosten eines untauglichen Verkehrssystems würden ignoriert. Ohne Eisenbahn werde es "niemals wieder ein wirkliches souveränes, unabhängiges, entwickeltes und solidarisches" Argentinien geben, sagt Cena. Er nennt die neoliberalen Deregulierer ferrocidas, Eisenbahnmörder. Immerhin beginnt die Politik, ihre Fehler einzusehen. 2006 verabschiedete die Regierung Néstor Kirchner den Megaplan Eisenbahn, der Millioneninvestitionen vorsieht; sogar ein Hochgeschwindigkeitszug nach Vorbild des französischen TGV soll entstehen. Doch die Realität sieht anders aus: Reaktivierte Strecken werden oft gleich wieder dichtgemacht, weil das marode Rollmaterial streikt.

Wie ein Dinosaurier

In Mexiko und Brasilien funktioniert immerhin der Güterverkehr noch. In Bolivien hat Präsident Evo Morales die Strecke zum Titicacasee instand setzen lassen, der wöchentliche Zug wird in den Dörfern bestaunt wie ein Dinosaurier. Auf der Anschlussstrecke in Peru müssen die Marktfrauen in Juliaca erst ihre Stände wegräumen, wenn die Bahn kommt. In Costa Rica verursacht der reaktivierte Vorortzug in San José immer wieder Unfälle, weil die Passanten nicht mehr daran denken, dass auf Schienen Züge fahren.

Die Menschen seien der Bahn entwöhnt, sagt Samuel Rachdi. Er möchte sie wieder daran gewöhnen - und zwar von der idyllischen Zentralschweiz aus. In Steinen am Lauerzersee betreibt Rachdi seine Einsatzzentrale - natürlich in einem alten Bahnhof. Er hat dort so ziemlich jeden Fahrplan auf Lager, er gibt eine sehr sachkundige Zeitschrift über die Bahnen dieser Welt heraus und stellt exotische Zugreisen zusammen. Durch ihn entstand der Verein "Freunde Lateinamerikanischer Bahnen". Er soll kein Zirkel fachsimpelnder Freaks sein, betont Rachdi, sondern eine echte Lobby.

Mehr als ein Zug nach Nirgendwo

Deshalb haben Rachdi und 40 Mitstreiter die "Asociación Internacional para el Fomento de los Ferrocarriles Latinoamericanos (Aiffla)" gegründet - eine Genossenschaft, die bei lateinamerikanischen Verkehrsbetrieben und Regierungen vorstellig wird, wenn wieder eine Stilllegung droht. Eine Sisyphusarbeit für Nostalgiker? "Nein", sagt der 50-Jährige. Manchmal müsse man die Verantwortlichen nur auf Ideen bringen, viele seien falsch beraten. Die Aiffla hält sich zugute, unter anderem in Peru die Strecke Lima-Huancayo, in Argentinien den Old Patagonia Express und in Brasilien die Linha do Vale do Contestado gerettet zu haben. Es geht um das Bewusstsein, dass Eisenbahn mehr sein kann als ein Zug nach Nirgendwo.

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