Mercedes 400 E:Der Kleine mit dem großen Herzen

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In die Karosserie der Mittelklassen-Baureihe wurde einmal mehr ein V8-Motor gepackt

(SZ vom 18.01.1992) Zweihundert, dreihundert, fünfhundert - so hat bisher derjenige gezählt, der sich mit der Typologie der mittleren Baureihe von Mercedes-Benz befaßt hat. Da fehlt doch etwas? Richtig, das haben sich wohl auch die Strategen in Stuttgart gedacht und die Lücke flugs geschlossen. Allerdings kommen einstweilen nur die Mercedes-Fans in Japan und in den USA in den Genuß des 400 E.

Was sich hinter diesem Kürzel verbirgt, ist leicht zu erahnen, Mercedes hat den großen 4,2-Liter Achtzylinder-Motor aus der S-Klasse in die Karosserie der Baureihe W 124 gepackt, deren Basismodell der 200 E und deren Krönung der 500 E ist. Herausgekommen ist mit dem 400 E ein hubraumstarkes, äußerst üppig motorisiertes Automobil, das zum komfortablen Überwinden langer Distanzen geradezu prädestiniert scheint.

Der 4,2-Liter-Motor leistet in der S- Klasse im 400 SE 210 kW (286 PS). Die Leistungsminderung im 400 E ergibt sich aus einer modifizierten Abgasanlage, die den engeren Platzverhältnissen unter der Motorhaube der Mittelklasse angepaßt ist. Wozu braucht man 272 PS, wenn man ohnehin nur mit maximal 65 Meilen in der Stunde über die amerikanischen Highways flanieren darf? Man braucht ein solches Kraftpotential natürlich nicht, aber es ist einfach angenehm zu wissen, daß es vorhanden ist. In Verbindung mit der weich und nahezu ruckfrei schaltenden Automatik läßt sich der 400 E seidenweich fortbewegen - das wichtigste Instrument ist der Tempomat, mit dem sich die gewünschte Geschwindigkeit mit einem Fingerzeig einstellen läßt. Der Motor läßt seine Anwesenheit nur durch ein sanftes Rauschen, das aus weiter Entfernung zu kommen scheint, erahnen - außer er wird mit einem Kick down zur vollen Leistungsentfaltung gezwungen. Dann wechselt die Tonlage in ein metallisches Sirren.

Von außen läßt sich der 400 E nicht von seinen schwächeren Brüdern unterscheiden. Ein kraftvoll motorisiertes Auto zu fahren, dies aber nicht unbedingt auch zu demonstrieren, wird auch in Amerika immer schicker. Während beim 500 E, unter dessen Haube der Achtzylinder mit 5,0 Litern Hubraum arbeitet, ausgestellte Kotflügel noch die Kraftkur andeuten, hat Mercedes beim 400 E gänzlich auf jede Retusche verzichtet. Auch im Innenraum gibt es keine Überraschungen. Es versteht sich von selbst, daß der geschätzten Kundschaft, die bereit ist, in den USA für einen 400 E 55 800 Dollar auf den Tisch des Händlers zu legen, Luxus wie eine Klimaanlage oder Lederpolsterung serienmäßig angeboten werden. Was uns bei ersten kurzen Fahrten gestört hat, waren Kleinigkeiten: Das Lenkrad unseres Fahrzeuges war zur Mitte hin nicht richtig zentriert und es gab auch wenig Ablageraum für Landkarten oder ähnliches, da das Handschuhfach dem Beifahrer-Airbag weichen mußte. Und dann war da noch dieser Außenspiegel auf der rechten Seite, der kleiner ausgefallen ist als sein Pendant an der Fahrertür. Wir alle wissen, daß die älteste Autofirma der Welt damit den Cw-Wert reduzieren will - dennoch sieht nicht nur ein bißchen komisch aus, sondern erweist sich manchmal auch als unpraktisch.

Unter dem Blech waren allerdings Änderungen vonnöten, um den großen V8 in den Motorraum einzupassen. Trennwände und Achsquerträger wurden modifiziert. Außerdem wurden die Vorder- und die Hinterachse verstärkt. Dazu kommen neugestaltete Felgen, die im Design an die neue S-Klasse erinnern. Im Interieur wuchs der Mitteltunnel etwas an, da sich darunter die deutlich vergrößerten Katalysatoren der Abgasanlage befinden. Gebaut wird der 400 E übrigens vollständig in Sindelfingen und nicht wie der 500 E bei Porsche.

Der 400 E soll auch in Deutschland mehr als ein Lückenfüller werden. Allerdings steht noch nicht fest, wann er auf den Markt kommen wird. Wahrscheinlich fällt sein Verkaufsstart mit der Vorstellung der anderen Mittelklassen-Modelle zusammen, die im Herbst nach einem Facelifting und mit Vierventilmotoren in die Verkaufsräume gelangen werden. Noch völlig offen ist dagegen, ob eine andere Modellvariante aus dem Mercedes-Baukasten, die es in den USA bereits gibt, den Weg nach Deutschland finden wird - und zwar der 300 SD.

Das S steht in der Mercedes-Nomenklatura für die S-Klasse, weiß der Kenner, und das D für Diesel. Zwei Begriffe, die einander bisher ausgeschlossen haben. Denn einen Dieselmotor hielt Mercedes bisher für seine Top-Modelle nicht für standesgemäß - nach einer solchen Variante bestehe keine Nachfrage, hieß die offizielle Begründung. Dabei kann sich die Kombination des 3,5-Liter-Turbodieselmotors mit der wuchtigen Karosserie der S-Klasse durchaus sehen und vor allem fahren lassen. Denn die 110 kW (150 PS) genügen durchaus, um mit dem Gewicht, das die Karosserie auf die Räder bringt, fertig zu werden. Daß dieser Turbodiesel kein Sportler ist, versteht sich dabei - im subjektiven Fahreindruck hinterläßt er doch einen noch agileren Eindruck, als man dies nach der Papierform erwarten würde. Das maximale Drehmoment von 310 Nm liegt bei 2100/min an, so daß auch Beschleunigungsvorgänge kein Problem sind. Eine technische Mercedes- Novität ist die elektronische Kontrolle des Ladedrucks. Dieser 3,5-Liter-Motor wird künftig auch die Geländewagen-Baureihe, das G-Modell, beflügeln. Gerade wenn die Benzinpreise weiter in die Höhe klettern sollten, werden auch S-Klasse-Interessenten den geringeren Kraftstoffverbrauch des Turbodiesels gegenüber den Sechs- und Achtzylindern verstärkt ins Kalkül ziehen. Und Mercedes wäre kein ökonomisch denkendes Unternehmen, wenn es dann nicht reagieren würde: Der 300 SD paßt auch auf die German Autobahn.

Von Otto Fritscher

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