Lancia Kappa:Auftritt als Retter oder Rächer?

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Mit einer zeitlosen Karosserie, viel Platz im Innenraum und neuen Fünfzylindermotoren

(SZ vom 18.02.1995) Lancia ist auf der Suche nach einer neuen Identität, aber leider benutzen die Italiener bei ihrer Orientierungsfahrt keine besonders präzise Straßenkarte. Statt die eigene glorreiche Vergangenheit zum Vorbild zu nehmen (Aurelia! Fulvia! Stratos!), bemühen sich die Nachfahren des Vincenzo L. um angestrengte Modernität. Das Ergebnis sind eher mittelmäßige Autos, die in der entmilitarisierten Zone zwischen Alfa und Fiat nicht so recht wissen, wo's langgeht. In dieser Situation kommt - als Retter oder Rächer? - der Kappa zu den Händlern, die vor lauter Herzklopfen kaum noch buon giorno sagen können. Das Werk begleitet die Markteinführung mit einer teuren Werbekampagne, aber Liebe kann man nicht kaufen, und so werden wir erst in sechs bis zwölf Monaten wissen, ob die höflichen Absichtserklärungen zu festen Bindungen geführt haben.

Keine strahlende Schönheit

Der Kappa ist keine strahlende Schönheit, aber er ist zumindest gefällig, und die von IDEA entworfene Form darf schon deshalb als zeitlos gelten, weil sie im Prinzip bereits fast sieben Jahre alt ist. Hinter der etwas farblosen und nicht sehr mutigen Fassade verbirgt sich eine geräumige Fahrgastzelle, die vorne wie hinten überdurchschnittlich viel Platz bietet. Auch das Kofferraumvolumen liefert mit 525 Litern einen absoluten Spitzenwert. Keine Frage: In punkto Raumangebot ist der Kappa Italiens Antwort auf die S- Klasse. Weil der große Lancia auch als Chauffeurfahrzeug hoch im Kurs steht, sind die Fondsitze besonders kommod, und die Beinfreiheit hat First-class-Format. Speziell die luxuriöse LX-Ausführung bietet von der Klimaautomatik bis zum elektrisch verstellbaren Gestühl so ziemlich alles, was nobel und teuer ist. Nur auf das synthetische Holzimitat in der Mittelkonsole hätten wir ohne weiteres verzichten können.

Das Armaturenbrett kombiniert die Ruhe klassischer Rundinstrumente mit der digitalen Hektik des sogenannten Infocenters. Ein kleiner Monitor nennt Zeit und Datum, Inspektions- und Wartungstermine sowie die aktuelle Einstellung der Klimaanlage. Die Mitteilungen des Infocenters sind in fünf verschiedenen Sprachen abrufbar . Die mittelsame Elektronik muß sich allenfalls dem Soundsystem unterordnen, das den Kappa auf Knopfdruck in einen rollenden Konzertsaal verwandelt. Wer den Pegel hochdreht, dämpft elegant die störenden Windgeräusche und das Poltern der aufwendig geführten Einzelradaufhängung. Lancia entschloß sich - wider den Trend - zu einem konventionellen Federbein-Quartett, das von Schwingarmen (vorne), Querlenkern (hinten) und Stabilisatoren (rundum) tatkräftig unterstützt wird. Abgesehen von einer gewissen Stuckerneigung auf kurzen Wellen leistet sich das Kappa-Fahrwerk keine gravierenden Schwächen. Im Gegenteil: Der Italo-Expreß kombiniert überdurchschnittlichen Federungskomfort mit einer selbstsicheren Straßenlage und mit einem problemlosen Eigenlenkverhalten.

Der große Lancia ist weder ein nerviges Rennpferd, noch eine träge Sänfte, sondern eine in allen Lebenslagen souveräne Reiselimousine. Zu den Stärken des Kappa gehören die in sich ruhende Richtungsstabilität, die vor allem bei den Modellen mit Viscodrive-Sperrdifferential gute Traktion (eine weitergehende Antischlupf-Regelung ist nicht lieferbar), die selbst in Streßsituationen stets korrekte Aufbauhaltung und ein Maß an Handlichkeit, das man der 4,68 Meter langen Limousine auf Anhieb gar nicht zugetraut hätte. Der Kappa lenkt willig und spontan ein, er hält auch unter erschwerten Bedingungen sicher den Kurs, und er leidet nicht unter den typischen Sünden kräftig motorisierter Fronttriebler wie haltlosem Untersteuern und ungeniertem Lenkradrupfen. Die Fuhre schiebt zwar im Grenzbereich über die Vorderräder in Richtung Gänseblümchen, aber diese Sturm-und- Drang-Periode kündigt sich rechtzeitig an, und sie birgt keine Bösartigkeiten im Stil plötzlich abreißender Haftung oder unmotivierter Lastwechsel-Schwenks.

Die serienmäßige Servolenkung ist leichtgängig und sensibel, doch die aufpreispflichtige Servotronic (700 Mark) wirkt seltsam artifiziell. Außerdem neigt sie in schnellen Kurven zum Verhärten, wobei der Kraftaufwand überproportional zunimmt. Keine Schwächen leistet sich dagegen die standfeste und sauber dosierbare Bremsanlage, die für rasche und spurtreue Verzögerung sorgt. Perfekt gewichtet und ungewöhnlich nachsichtig ist die Kupplung, die ruppige Gangwechsel ebenso klaglos absolviert wie die klassischen Zitterpartien an Steigungen und beim Ampelstart. Das Fünfganggetriebe arbeitet etwas langsamer als die fixen Räderwerke der Konkurrenz, aber dafür hält sich der Kraftaufwand in engen Grenzen, und die Abstufung paßt. Eine Weltneuheit stellt die Schaltbox der 2,0- Liter-Version dar, die - freilich nur in der Italien-Ausführung - ab Werk wahlweise mit sportlicher (Power Drive) oder verbrauchsoptimierter Auslegung (Comfort Drive) bestückt wird. Die allerbeste Lösung für entspannendes Fahren ist natürlich die weich schaltende Viergangautomatik, die es allerdings ausschließlich für die 2,0- und 3,0-Liter-Modelle gibt.

Im Lancia Kappa tun nicht weniger als drei neu entwickelte Fünfzylinder und ein überarbeiteter 3,0-Liter-V6 Dienst. Als Basismotorisierung fungiert ein 107 kW (145 PS) starkes 2,0-Liter-Aggregat, das im LE für 45 145 Mark zu haben ist (Null auf 100 km/h in 9,8 Sekunden, 205 km/h, 9,6 l/100 km im Drittelmix). Ambitioniertere Leistungsansprüche befriedigt der 2,4 LS mit 129 kW/175 PS (52 945 Mark), der in 9,2 Sekunden von Null auf 100 km/h beschleunigt, 215 km/h schnell ist und im Schnitt 10,0 Liter Super zu sich nimmt. Noch mehr Antriebskomfort bietet der 150 kW (204 PS) starke 3,0 LS (61 700 Mark), der 225 km/h schnell fährt, den 100-km/h-Spurt in 8,4 Sekunden absolviert und alle hundert Kilometer 10,5 Liter Sprit einfordert. Am entgegengesetzten Ende der Konsumskala rangiert der Kappa 2,4 Tds (91 kW/124 PS, 47 645 Mark), der im ECE-Zyklus nur 7,4 Liter/100 km verbraucht. Das Turbo-Wiesel beschleunigt in 12,6 Sekunden von Null auf 100 km/h; die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 193 km/h. Während der 3,0 V6 und der 2,4 LS eher konventionelle Fahr- und Verbrauchswerte erzielen, beeindruckt der 2,0 LE durch sein lebendiges Ansprechverhalten, die asketischen Trinksitten und - last but not least - durch das aggressive Preis-/Leistungs- Verhältnis. Der 2,4 Tds ist mehr Turbo als Diesel, aber der Selbstzünder läuft rauher und lauter als die Benziner, und ihm fehlt ganz besonders die sedative Wirkung der nicht lieferbaren Automatik.

Sehr kurze Aufpreisliste

Schon die LE-Version verfügt serienmäßig über zwei Airbags, ABS, Servolenkung, ein axial und vertikal verstellbares Lenkrad, vier elektrische Fensterheber, Wegfahrsperre, Infocenter, Zentralverriegelung, Kopfstützen hinten, Colorscheiben und eine Durchladeinrichtung. Der Kappa LS bietet außerdem elektrisch nach hinten klappbare Außenspiegel und eine Klimatisierungsautomatik, der LX hat zusätzlich Leichtmetallfelgen, 205er- Reifen, Servotronic, Nebelscheinwerfer, Scheinwerfer-Reinigungsanlage, Alcantara-Ausstattung sowie beheizte, elektrisch verstellbare Sitze. Die erfreulich kurze Aufpreisliste enthält unter anderem Metalliclack (1000 Mark), Stahlschiebedach (1600 Mark) und temperierte Ledersitze mit Memory-Schaltung (5700 Mark). Natürlich wird Ihnen jeder Lancia-Händler mit glänzenden Augen vorrechnen, daß Sie mit dem Kappa gegenüber einem Audi, BMW oder Mercedes zigtausend Mark preiswerter wegkommen. Das stimmt - aber nur auf den ersten Blick. Der dickste Brocken bei den Betriebskosten ist nämlich der Wertverlust, und da müssen die Italiener erst beweisen, daß dieser Casus knacktus beim Kappa kein Thema mehr ist. Als geeignete Argumente gelten überdurchschnittlich gute Qualität, geringe Defektanfälligkeit, umfassender Korrosionsschutz und eine langlebige Mechanik. Als Menschen, die an das Gute glauben, sind wir zuversichtlich, daß die Zeit diesmal nicht gegen, sondern für Lancia arbeitet und daß der Kappa dem Vermächtnis seiner Vorgänger auf- und davonfährt. Verdient hätte er's.

Von Georg Kacher

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