"Es muss richtig weh tun, damit die Leute es lassen":Wo die Unvernunft Gas gibt

Lesezeit: 9 min

Die Jagd nach den Rasern und Dränglern auf der Autobahn: Wie Zivilfahnder der Verkehrspolizei mit modernster Technik des alltäglichen Rowdytums auf den Schnellstraßen Herr zu werden versuchen.

Von Harald Hordych

(SZ vom 5.9.2003) - Es sind nur ein paar Sekunden, aber sie genügen Hauptwachtmeister Joachim Keller. "Des isch einer für uns", sagt er zu seinem Kollegen, als der silberne BMW mit hoher Geschwindigkeit von hinten herangeschossen kommt. Er drückt auf einen Knopf in der Mittelkonsole, da ist der silberne BMW auch schon vorbeigerast und im Visier der Kamera, die an der Frontscheibe angebracht ist.

"Wer dann einen Haken schlägt, der fliegt von der Bahn": Standbild aus einem Film, den ein Videofahrzeug der Karlsruher Autobahnpolizei aufgezeichnet hat. (Foto: Foto: Polizei)

Die Verfolgungsjagd beginnt, Keller beschleunigt seinen dunkelblauen Audi A6 Quattro auf 180 und setzt sich hinter den silbernen BMW. Wenn er nicht unmittelbar dahinterfährt, sind die Bilder als Beweis vor Gericht nicht zu gebrauchen.

Für einen Moment war zu erkennen, dass der Fahrer einen Handy-Kopfhörer trägt, womöglich spricht er gerade, wer hätte auch etwas dagegen. Aber es ist immerhin ein Detail, das den Fahrer des BMW als jemanden ausweist, der verschiedene Dinge gleichzeitig zu erledigen versucht, auch bei hoher Geschwindigkeit auf einer Autobahn, die zu den meistbefahrenen Deutschlands gehört.

Auch an diesem sonnigen Tag, an dem eigentlich ideale Bedingungen für ein rasches Fortkommen herrschen. Der Verkehr fließt zwar dahin, aber von einer freien, ungehinderten Fahrt auf der linken der drei Spuren der Autobahn 5 zwischen Karlsruhe und Mannheim kann keine Rede sein.

Genau das ist das Problem des Mannes in dem silbernen BMW. Es sind noch andere auf dieser Spur, andere Autos, die nicht so schnell sind wie er und die sich trotzdem das Recht herausnehmen, dort zu fahren.

Das andere Problem ist, dass hier Schilder stehen, auf denen eine 120 in einem roten Kreis geschrieben steht. An der Lösung des ersten Problems arbeitet der Mann durch dichtes Auffahren auf einen VW-Polo. Er drückt. Er schiebt.

Wie die Beamten in dem dunkelblauen Audi Quattro feststellen. Das andere löst er, indem er sich einfach darüber hinwegsetzt, denn von der Polizei ist anscheinend weit und breit nichts zu sehen.

"Den hole mer raus"

Auf einem Monitor im Innenraum des Quattro, vor den Knien des Hauptkommissars Rudi Greulich, läuft der Spielfilm zum täglichen Geschwindigkeitsrausch, inklusive Uhrzeit in 100stel Sekunden und der aktuellen Geschwindigkeit.

"Das ist ein typischer Drängler, gehobene Mittelklasse, hochmotorisiert und offensichtlich ein Geschäftsmann, der keine Zeit verlieren will", sagt Greulich.

Ein paar Sekunden genügen, damit die Beamten Bescheid wissen, ob einer dem Vordermann nur kurz zu nah kommt und sich dann wieder zurückfallen lässt. Oder ob er dran bleibt. Ob er tatsächlich zum Drängler wird. Wenn ja - Zugriff.

Die Beamten der Gruppe Schnellverkehrsüberwachung des Autobahnpolizeireviers Karlsruhe sind schon längere Zeit so etwas wie Serienhelden in einer unendlichen Reality-Show, die von Sender zu Sender weitergereicht wird.

Immer wieder drängeln sich Fernsehjournalisten mit ihren Kameramännern auf dem Rücksitz des Audi Quattro, damit die Zuschauer dabei sind, wenn Keller in seinem gemütlichen Schwäbisch zu Greulich sagt: "Den hole mer jetzt raus."

Der Thrill hoher Geschwindigkeit im Auftrag des Gesetzes.

Gerade in diesen Tagen hat Greulich eine Menge Fragen zu beantworten. Hier, nur wenige Kilometer von der Einsatzzentrale in Karlsruhe-Durlach entfernt, hat sich am 14. Juli ein Unfall ereignet, der die Öffentlichkeit heftig aufgeschreckt hat, so als habe sie seit Jahren auf einen solchen Fall gewartet: auf die Katastrophe, das Unglück, das aus einem Kavaliersdelikt das macht, was es für Greulich schon lange ist - eine überaus verwerfliche Tat.

Eine 21-jährige Frau und ihre zweijährige Tochter kamen ums Leben, als sie von der Fahrbahn abkamen und gegen einen Baum rasten. Die Staatsanwaltschaft hat einen 34-jährigen Mann in dem dringenden Verdacht, durch das "Heranrasen" mit einem Mercedes CL 600 diesen Unfall ausgelöst zu haben.

"Solche Fälle gibt es Hunderte am Tag, überall, und unbegreiflicherweise geht es immer gut. Jetzt ist es einmal nicht gut gegangen", sagt Oberstaatsanwalt Peter Zimmermann in Karlsruhe.

Keller und Greulich sind wie an vielen anderen Tagen auch heute auf der A5 von Karlsruhe in Richtung Frankfurt unterwegs. Mehrmals werden sie zwischen Karlsruhe-Durlach und Bruchsal den Parkplatz Höfenschlag passieren.

Jetzt haben sie angehalten und gehen ein paar Meter zurück zu dem Parkplatz. Am Rand der Ausfahrt, dort, wo der Wald beginnt, donnert der Verkehrslärm gellend laut wie eine stürmische Brandung heran, ein denkbar ungeeigneter Ort für die Ruhe, die die Trauer braucht.

Die beiden Beamten blicken dennoch betroffen zu Boden, weil das, was sie sehen, neu für sie ist. Ein Unbekannter hat eine kleine, liebevoll arrangierte Andachtsstätte aufgebaut.

Auf weißen Kieselsteinen steht eine Laterne mit einem Totenlicht, aber die Kerze brennt nicht.

Dahinter sitzen ein aus Stroh gebasteltes Kaninchen, eine Spielmaus und ein kleines rosafarbenes Marsmännchen, an dessen Hals ein rotes Herz hängt: "With Love" steht darauf.

"Das Kindle saß wohl noch im Sitz"

Es ist, als ob sich die Kuscheltiere und der in einer schlichten Glasvase verwelkende Blumenstrauß mit roten Blüten und das Totenlicht um einen kleinen Baumstumpf scharen würden. Er überragt das Arrangement ein wenig, und auf ihm liegt, mit Bedacht genau in die Mitte gerückt, ein einziger kleiner Schuh, eine dunkelblaue Sandale, wie sie zweijährige Kinder tragen, abgeschabt, ein wenig mitgenommen, als sei der Schuh verletzt.

Drei Meter dahinter erhebt sich ein Baum, dessen Rinde abgerissen ist, weggefetzt, vom Aufprall des Kia, der hier am 14. Juli um sechs Uhr morgens gegen die Kiefer gefahren und dann förmlich zerborsten ist.

Die 21-jährige Jasmin A. und ihre zweijährige Tochter Rebecca waren auf der Stelle tot. "Das Kindle saß wohl noch im Sitz", sagt Greulich leise.

Fakt ist, dass die junge Frau plötzlich ihr Steuer herumgerissen hat, der Wagen schleuderte, geriet außer Kontrolle und prallte gegen den Baum. Warum hat sie das getan?

Dass die Staatsanwaltschaft überhaupt ermitteln konnte, was an diesem schönen Sommermorgen geschah, verdankt sie vier Augenzeugen, die das Geschehen verfolgten, erklärt Oberstaatsanwalt Zimmermann in seinem Büro mit den nüchternen Betonwänden.

Unkontrollierte Fahrmanöver

Ein Zeuge, der selbst "mit hoher Geschwindigkeit" unterwegs war, wurde von einem Fahrzeug überholt, das mit "deutlich höherer Geschwindigkeit fuhr". Zimmermann geht von 250 Stundenkilometern aus.

Der Kia der jungen Frau befand sich ebenfalls auf der dritten Spur, und die Fahrerin hatte gerade einen Überholvorgang abgeschlossen, wie Zimmermann sagt.

"Da fährt der Mercedes mit sehr hoher Geschwindigkeit von hinten an das deutlich langsamere Fahrzeug der jungen Frau heran." Weil zwischen dem "Heranrasen" und dem Ausbrechen des Kia nur Bruchteile von Sekunden liegen, besteht für die Staatsanwaltschaft kein Zweifel daran, dass "das hintere Fahrzeug so schnell herangefahren ist, dass der Vorausfahrende einen Schreck bekommen hat und dass er dadurch zu unkontrollierten Fahrmanövern veranlasst wurde".

Zwei Gutachten haben ergeben, dass es zu keiner Berührung gekommen ist, was für Zimmermann aber keine große Rolle spielt, denn das ändert nichts an dem Tatverdacht der fahrlässigen Tötung, die die Staatsanwaltschaft dem Verursacher des Unfalls vorhält.

Sollte Anklage gegen den 34-Jährigen erhoben werden, drohen ihm fünf Jahre Gefängnis. Längst ist bekannt, dass der Tatverdächtige Ingenieur und Testfahrer bei DaimlerChrysler ist und auf einer Dienstfahrt unterwegs war.

Nur nicht abreißen lassen

An dem kleinen Polo ist der silberne BMW vorbei. Jetzt ist Raum da, Platz für Geschwindigkeit. Endlich kann der Fahrer beschleunigen, es ist, als ginge ein Ruck durch den Wagen.

Hauptwachmeister Keller tritt ebenfalls sofort kräftig aufs Gas, und der Quattro beschleunigt in wenigen Sekunden von 123 auf 187 Stundenkilometer. Jetzt nur nicht abreißen lassen, damit sich kein anderer Wagen dazwischensetzen kann.

Da leuchten schon wieder die Bremsleuchten des BMW wie ein Feuerwerk, diesmal ist es ein roter Peugeot, der den BMW aufhält. Wieder drängt er, wieder schiebt er. Das genügt. Greulich klappt die Sonnenblende des Quattro hinunter, und der Fahrer des BMW sieht im Rückspiegel plötzlich ein Display aufleuchten.

"Stop Polizei" steht da. Sofort geht der BMW in die zweite Spur, zum ersten Mal. Jetzt können sich die Polizisten vor ihn setzen, und auf der hinteren Ablage fährt surrend ein weiteres Display hoch. Dort leuchtet "bitte folgen".

"Schon klar"

Auf dem Gesicht des Fahrers malen sich plötzlich grenzenloses Verblüffen und das Begreifen ab, dass nun große Unannehmlichkeiten auf ihn zu kommen.

Auf dem Parkplatz treten dem Mann mit dem gepflegten Dreitagebart zwei Beamte entgegen, die mit ihren Jeans und den Sommerhemden eher wie zwei Freizeit-Angler aussehen.

Keller will ihm seinen Dienstausweis zeigen, doch der Mann in dem weißen Hemd winkt ab. "Schon klar", sagt er und setzt einen reumütigen Blick auf, den er auch beibehält, als er sich in dem Quattro die Videoaufzeichnung seiner Vergehen anschaut.

Drei Verstöße in wenigen Minuten, 175 Stundenkilometer, wo nur 120 erlaubt sind, zweimal längere Zeit fast bis auf zehn Meter herangefahren. Vier Wochen Fahrverbot sind ihm sicher. Dazu das Bußgeld.

"Das macht man nicht einfach so in Gedanken"

Genau wird das erst in der Dienststelle ein Computerprogramm anhand der Videobilder ausrechnen.

Der Mann nickt immer nur, und dann erzählt er davon, dass er soviel zu erledigen und noch mehr Sorgen habe: Seine Firma laufe nicht gut, seine Kinder lebten nach der Scheidung in Frankfurt und überhaupt ... "Ich war total in Gedanken", sagt er.

Doch da widerspricht ihm Greulich energisch: "Nein, Sie haben genau gewusst, was Sie tun, das macht man nicht einfach so in Gedanken."

Das ist so etwas wie der Leitsatz für Greulich, den Chef der Verkehrsgruppe Schnellverkehrsüberwachung, die Quintessenz seines 30-jährigen Berufslebens als Polizeibeamter.

15 Jahre ist er jetzt schon bei der Verkehrsüberwachung. Die Polizisten legen großen Wert darauf, keine Strichle-Jäger zu sein, also jeden Tag so viel Mandate wie möglich zu schreiben.

Um vor Gericht keine Niederlage einzustecken, nehmen sie sich nur der klarsten Vergehen an. Immer wieder lassen sie die Fahrer gewähren, wenn diese sie nur einen kurzen Moment auf den Vordermann auffahren.

Würden sie jedes Mal einschreiten, wenn der geforderte Sicherheitsabstand von mehr als der Hälfte der eigenen Geschwindigkeit nicht eingehalten wird, könnten die beiden gleich die Autobahn sperren und praktisch alle Verkehrsteilnehmer verwarnen.

Ein Verbrechen, ein "charakterlicher Verstoß"

Und für einen, der 135 fährt, wo 120 erlaubt sind, tippt Keller noch nicht mal das Gaspedal an.

Nein, es geht den sechs Beamten nur um die Verfolgung der gravierendsten Fälle. Und vor allem um Abschreckung. Um das Schaffen eines Bewusstseins in der Öffentlichkeit.

Für Greulich ist das rücksichtslose Heranfahren und Drängeln, teilweise mit einem Abstand von weniger als zehn Metern, ein Verbrechen, ein "charakterlicher Verstoß", wie er fast kämpferisch sagt. Man kann ihn gut verstehen, der 55-Jährige hat schließlich schon eine Menge gesehen und nicht vergessen können.

Zum Beispiel den LKW-Fahrer, der auf einen Wagen aufgefahren war und dessen Unterleib in seinem zerstörten Fahrzeug eingeklemmt war. Er hing aus der Fahrerkabine heraus, stützte sich auf Greulichs Schultern und wartete dort auf Rettung. "Mit ganz normaler Stimme", sagt Greulich, erzählte der Mann von seinem Leben und seinem Kind. Und dann starb er.

Solche Bilder gehen Greulich und seinen Kollegen nicht aus dem Kopf, wenn sie wieder und wieder erklären, warum weniger als 20 Meter Abstand auf den Vordermann bei Tempo 140 jedwede adäquate Reaktion ausschließen.

Weil in der Sekunde, die man für Reaktion und den Tritt aufs Bremspedal braucht, unzählige wertvolle Meter ungenutzt verstreichen. "Da machen sie gar nichts mehr."

Darum sei ja das blitzschnelle Heranfahren so unverantwortlich. Greulich kann sich da in einen badisch-gemütlichen Zorn hineinreden. Er verachtet es, wenn das Heranrasen als kalkulierte Drohung eingesetzt werde.

Die Fahrer würden manchmal erst in letzter Sekunde eine Art Notbremsung vollführen. "Die kennen ihr Fahrzeug. Nur der Vordermann erschrickt zu Tode, weil er das nicht einschätzen kann. Wer dann einen Haken schlägt, weil er denkt, sonst knallt's, der kann den Wagen nicht halten. Der fliegt von der Bahn."

Ein hämisches Zeichen

Gewalt auf der Straße? Aggressionsabbau am Steuer? Bei einer Verfolgungsjagd setzt sich bei Tempo 165 urplötzlich ein Lieferwagen vor den beschleunigenden Quattro.

Abstand allenfalls fünf Meter, und er fährt langsamer. Jeder ungeübte Fahrer wäre draufgekracht. Keller fängt den Wagen ab. Da bremst der Fahrer des Lieferwagens noch einmal, er will provozieren.

Die Beamten sind stocksauer. Als er sie endlich vorbeilässt, schickt der Fahrer ihnen obendrein eine Kusshand als Gruß hinterher: Ihr könnt mich mal. Er weiß nicht, wem er dieses hämische Zeichen gibt. Eine Minute später weiß er es.

Wer Rennen auf der Autobahn verhindern will oder den täglichen Nahkampf auf den Schnellstraßen, der muss drakonische Strafen einführen, findet Greulich. "Es muss richtig weh tun, damit die Leute es lassen."

Und es müssen Kontrolleure unterwegs sein, die unberechenbar sind, genauso aus dem Nichts kommen wie die Raser selbst, die nicht einfach wieder im Nichts verschwinden dürfen, wie der Mercedes 600 am 14. Juli.

Hauptwachtmeister Keller wird jedenfalls an diesem Tag zehnmal, zwanzigmal den Quattro auf mehr als 200 Stundenkilometer beschleunigen. Dann packt er das Lenkrad fest mit beiden Händen und jagt über die Autobahn, um unmittelbar hinter Fahrzeuge zu gelangen, deren Fahrer denken, sie seien jetzt in Bereichen, in denen ihnen keiner mehr folgen kann.

Auf der linken Spur der unbegrenzten Geschwindigkeit, auf die sich am 14. Juli ein Kleinwagen in der Nähe von Karlsruhe-Durlach verirrte.

Staatsanwalt Zimmermann bekommt täglich Anrufe von Wildfremden, die große Mühe haben, ihre Emotionen zu zügeln. Einer sagte, zehn Jahre seien für diesen Typen noch nicht genug. Aber es rufen auch andere an. Einer sagte: "Wenn die Frau vor mir gewesen wäre, dann hätte ich die rechts überholt."

Und ein anderer sagte: "Was hat die denn auch auf der dritten Spur zu suchen? Die gehört weggeblasen."

(sueddeutsche.de)

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: