Chevrolet Corvette:Mit falschem Image

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Der Straßenkreuzer ist für unsere Straßen nicht quirlig genug

(SZ vom 03.05.1997) Daß es sie gibt, verdanken wir dem gekränkten Selbstbewußtsein der amerikanischen Nation in den fünfziger Jahren: Ob kerniger Jaguar XK 120, MG TD, Triumph TR2 und Austin Healy oder beflügelter Mercedes SL - europäische Sportler waren in den USA damals leichter zu übersehen als zu überholen. Dem abzuhelfen, entschied Harley Earl, seinerzeit Chef der Art and Colour Section bei General Motors, dem größten Automobilkonzern der Welt. Er ließ eine amerikanische Erfindung auf die Räder stellen, die über jede Konkurrenz erhaben sein sollte: Es entstand die erste Corvette. Ihr Erkennungszeichen: hungriges Haifischmaul und sattes Drehmoment. Ihr größter Erfolg: bis heute mehr als eine Million Käufer gefunden zu haben. Die Corvette gilt noch heute als berühmtestes Serienauto Amerikas. Zur Detroit Motorshow erwacht die fünfte Generation. Jetzt kommt sie nach Europa und möchte bei uns mit einer international anerkannten Sportwagenlizenz überzeugen.

Im Straßenverkehr erkennt man die neue Vette am breiten Grinsen des Vorderwagens. Nachfahrende hält ein hochgezogenes Heck mit der abschreckenden Wirkung einer chinesischen Mauer auf Distanz. Durch weit öffnende Seitentüren taucht der Fahrer tief hinab in ausgezeichnet konstruierte Ledersportsitze von Lear und fühlt sich durch die hochgezogene Gürtellinie sicher aufgehoben.

Im aufgeräumten Interieur macht sich der Mitteltunnel weit weniger breit als früher und läßt beiden Passagieren mehr Bewegungsfreiheit als im Ferrari F550, aber etwas weniger als im Mercedes SL. Auch im Fußraum geht es dank größerer Spurweite geräumiger zu.

Die Sechziger Jahre stehen Pate

Für die Außenhaut der neuen Vette erinnerte sich Chefdesigner John Cafaro an einprägsame Details der Corvette-Modellgeschichte. Insbesondere das Sting Ray Coupé der sechziger Jahre stand Pate: lange Motorhaube, ein im Kofferraumdeckel spitz auslaufendes Coupédach, die als Überrollschutz ausgebildete mächtige B-Säule, Luftauslässe hinter den Vorderrädern sowie elliptisch geformte Zwillingsrücklichter sind damals wie heute markanter Blickfang.

Besonders stolz weisen die Ingenieure des Corvette-Entwicklungsteams auf die Gewichtseinsparung von knapp 60 Kilogramm hin, die bei gleichzeitig gestiegener Motorleistung spürbar mehr Agilität bietet - und das, obwohl die neue Corvette in Maßen zugelegt hat. So mißt sie mit 456,4 Zentimeter Länge drei Zentimeter mehr und übertrifft das bisherige Modell auch in der Breite um 7,4 und in der Höhe gar um 3,2 Zentimeter.

Die fünfte Corvette-Generation erhielt ein völlig neues Chassis mit Boden aus GfK-verstärktem Balsaholz-Kern, wie er im Flugzeugbau verwendet wird. Die Kunststoffkarosserie ruht wie bisher schon auf vorderen und hinteren Fahrschemeln. Die Radaufhängung mit übereinanderliegenden Dreiecksquerlenkern und Längslenkern ist den neuen Dimensionen angepaßt und teilweise in Aluminium ausgeführt, die Querblattfedern bestehen aus Fiberglas.

Fahraktiv wie nie zuvor

Erstmals in der Corvette-Geschichte wählt Chevrolet die Tansaxale-Bauweise mit Triebwerk vorne und Getriebe an der hinteren Antriebsachse für eine Achslastverteilung von 51,4 Prozent vorne und 48,5 Prozent hinten. Unser erster Fahreindruck mit der GM-eigenen elektronischen Viergang-Automatik: die fahraktivste Corvette, die es jegab. In Verbindung mit einer Antriebsschlupfregelung benimmt sie sich bei Gasüberschuß auf schlüpfrigem Staßenbelag unkritisch: Zunächst drängt das Heck kurvenauswärts, um bei Zurücknahme des Gasfußes gutmütig einzulenken.

Block und Zylinderkopf des mächtigen 5,7-Liter-Corvette-Tiebwerks mit dem verharmlosenden Titel Small-Block V8 sorgen für den höchsten Erlebniswert. Einmal zum Leben erweckt, benimmt es sich akustisch zurückhaltend, brabbelt leise vor sich und kann selbst unter Vollast nicht aus der Ruhe gebracht werden. Dennoch geht sie auf Wunsch ordentlich zur Sache: Ungestüm drängt sie unter Vollgas geradeaus, läßt sich willig durch Kurven führen und verzögert selbst bei brutalem Bremsen noch außerordentlich spurtreu.

Die neue Corvette darf ohne Zweifel als fahraktivste Maschine der ChevroletGeschichte gelten. Dennoch: So sehr sie sich auch jenseits von 200 km/h auf die Straße saugt, so sicher sie den Befehlen des Fahrers folgt, es fehlt ihr die Handlichkeit eines Porsche Carrera, um als quirliger Sportwagen für das engmaschige Straßennetz Mitteleuropas zu gelten. Ihre Stärke ist die Langstreckentauglichkeit. Mit 92 500 Mark für die Version mit Schaltgetriebe liegt sie deutlich unter den deutschen Platzhirschen Porsche 911 und Mercedes SL. Denen gegenüber fehlt ihr allerdings die Image-Politur.

Von Jürgen Zöllter

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