Süddeutsche Zeitung

Wahlrecht:Wie das Parlament schrumpfen soll

Lesezeit: 4 min

Was bedeuten die Pläne der Ampelkoalition für den Bundestag? Und warum sind Linke und CSU besonders sauer? Antworten auf die wichtigsten Fragen zur Reform des Wahlgesetzes.

Von Kassian Stroh, Berlin

Seit zwei Jahrzehnten wächst der Bundestag stetig, das macht nicht nur die Parlamentsarbeit schwieriger und schwerfälliger. Es kostet auch viel Geld: Mehr als 1,1 Milliarden Euro gibt Deutschland in diesem Jahr für sein Parlament aus, auch diese Summe ist deutlich gestiegen. Seit Jahren debattieren in Berlin die Abgeordneten deshalb darüber, wie man durch ein neues Wahlrecht das Parlament wieder (dauerhaft) verkleinern könnte. Auch wegen widerstrebender Eigeninteressen sind sie dabei kaum vorangekommen. Am Wochenende haben sich nun die Fraktionsspitzen der Ampelkoalition auf ein Modell geeinigt, das noch diese Woche beschlossen werden soll.

Warum ist der Bundestag so groß?

598 Frauen und Männer sollten laut Gesetz im Bundestag sitzen, aktuell sind es 736. Das liegt daran, dass manche Abgeordnete als direkt in ihrem Wahlkreis Gewählte in das Parlament einziehen. Sind das in einem Bundesland für eine Partei mehr, als ihr nach ihrem Zweitstimmen-Anteil eigentlich zustünden, so darf sie sie trotzdem behalten (Überhangmandate). Die anderen Parteien bekommen im Gegenzug Ausgleichsmandate. Dieser Fall tritt tendenziell immer häufiger auf, da die großen Parteien insgesamt schlechter abschneiden, trotzdem aber weiterhin viele Direktmandate holen. Am deutlichsten zeigt sich das bei der CSU in Bayern: Die gewann bei der jüngsten Wahl 45 Wahlkreise direkt, hätte nach den eigentlich wahlentscheidenden Zweitstimmen aber nur 34 Sitze im Parlament bekommen. Da aber alle 45 Gewählten in den Bundestag durften, entstanden elf Überhangmandate, für die die anderen Parteien dann Dutzende Ausgleichsmandate bekamen.

Wie soll das Parlament wieder kleiner werden?

Die Ampelkoalition hat sich nun auf ein Wahlrecht geeinigt, das schon bei der nächsten Wahl im Jahr 2025 greifen wird, wenn es der Bundestag beschließt. Im Kern besagt es: Künftig gibt es 630 Abgeordnete und keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr. Damit ist das Parlament immer gleich groß; dafür kann es passieren, dass manch ein Wahlkreissieger nicht mehr in den Bundestag einzieht.

Was ist die Grundmandatsklausel?

Und noch eine zweite Besonderheit des Wahlrechts wollen SPD, Grüne und FDP streichen: die sogenannte Grundmandatsklausel. Diese sieht vor, dass eine Partei, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert, trotzdem in den Bundestag kommen kann, und zwar entsprechend ihrem Zweitstimmenergebnis - und zwar dann, wenn sie mindestens drei Direktmandate gewinnt. Diese Regel kam zuletzt der Linken zugute, die 2021 nur 4,9 Prozent der Zweitstimmen holte und trotzdem jetzt mit 39 Abgeordneten im Bundestag sitzt. Eine Abschaffung der Grundmandatsklausel könnte sie also hart treffen und theoretisch auch die CSU. Die trat bisher unabhängig von der CDU an, auch für sie gilt also die Fünf-Prozent-Hürde, die sie bislang allerdings immer genommen hat. Bei der Wahl 2021 holte die CSU mit einem historisch schlechten Ergebnis 5,2 Prozent der Stimmen bundesweit. Sollte sie weiter absacken, wäre sie nach den Plänen der Ampel gar nicht mehr im Parlament vertreten, ganz egal wie viele Direktmandate sie holt. Es sei denn, sie träte künftig gemeinsam mit der CDU an - diese dann in 15 Bundesländern und die CSU nur in Bayern. Das ist möglich.

Was passiert, wenn kein neues Gesetz beschlossen wird?

Das ist unwahrscheinlich, da der Ampelkoalition ihre einfache Mehrheit reicht, um das neue Wahlgesetz zu verabschieden. Wenn doch, dann bliebe das System der Wahl und der Sitzzuteilung im Grundsatz dasselbe - mit einer wichtigen Neuerung: Schon vor gut zwei Jahren hat die große Koalition aus Union und SPD beschlossen, von der Wahl 2025 an die Zahl der Wahlkreise (und damit indirekt auch die Größe des Bundestags) von 299 auf 280 zu verkleinern. Dafür müssten diese noch neu zugeschnitten werden. Mit der nun von der Ampelkoalition geplanten Neuregelung wird dies jedoch hinfällig, hier bleibt die Zahl der Wahlkreise bei 299.

Was sagt die Opposition?

Die Union will mit Nein stimmen und prüfen, ob sie vor dem Bundesverfassungsgericht klagt. "Verfassungsrechtlich halten wir den Vorschlag für hochproblematisch", sagt der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Abgeordneten im Bundestag, Thorsten Frei (CDU). Wenn gewonnene Direktmandate nicht mehr zugeteilt würden, werde dies insbesondere in städtischen Regionen und im Osten, "wo wir sehr stark umkämpfte Wahlkreise haben, dazu führen, dass es verwaiste Wahlkreise gibt und diese Regionen dann nicht direkt im Deutschen Bundestag vertreten sind". Die Frage, ob eine Klage in Karlsruhe, wie sie vor allem die CSU befürwortet, sinnvoll ist, ist aber auch in der Union umstritten.

Die Linke wirft SPD, Grünen und FDP ein "schäbiges" Vorgehen gegen politische Gegner vor. "Dieser Vorschlag zielt einzig gegen die linke Opposition, die man versucht, mittels des Wahlrechts politisch plattzumachen", sagt Jan Korte, der Parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion. "Mit der Streichung der demokratisch sinnvollen Grundmandatsklausel erfüllen die Ampelparteien der AfD einen großen Wunsch" - die Verdrängung der Linken aus dem Bundestag.

Ist die Koalition CDU und CSU entgegengekommen?

Ja, in einem Punkt: Bis zum Wochenende sah ihr Modell vor, dass der Bundestag insgesamt 598 Abgeordnete haben soll, also genau doppelt so viele, wie es Wahlkreise gibt (299). Nun haben sich die Fraktionsspitzen darauf geeinigt, dass es insgesamt 630 Abgeordnete sein sollen bei weiterhin 299 Wahlkreisen. Damit wäre das Parlament zwar ein bisschen größer, damit würde sich aber auch das von der Union beklagte Problem der "verwaisten Wahlkreise" verringern. Denn dann dürfte es deutlich weniger direkt gewählte Kandidaten geben, die dann doch nicht in den Bundestag einziehen.

Wie begründet die Ampel ihre Reform?

Sie will nicht nur den Bundestag verkleinern und verhindern, dass er künftig womöglich noch größer wird. Sie will auch beweisen, dass die Koalition handlungsfähig und das Parlament in eigener Sache reformfähig ist. Das sei wichtig "in einer Zeit, in der sich die Frage des Maßhaltens für viele stellt", so formuliert es der für die Wahlrechtsreform zuständige Grünen-Abgeordnete Till Steffen. Deswegen habe man sich auch von der Idee der Union inspirieren lassen, mehr Listen- als Direktmandate zu vergeben, ergänzt Konstantin Kuhle (FDP) - das mache die Reform für CDU und CSU "akzeptabler". Kuhle warb erneut um deren Stimmen für das neue Gesetz.

Einer möglichen Verfassungsklage sieht die Koalition gelassen entgegen. Dafür sei bis zur nächsten Bundestagswahl auch genug Zeit, sagt Steffen. Sebastian Hartmann (SPD) beteuert: "Wir haben jeden Kritikpunkt ernst genommen."

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hieß es, die von der Ampelkoalition geplante Abschaffung der Grundmandatsklausel träfe nicht die CSU, da sie weiterhin zumindest die meisten ihrer direkt Gewählten ins Parlament entsenden könnte. Das ist falsch, wir haben den Fehler korrigiert.

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