Süddeutsche Zeitung

Türkei und Russland:Erdoğans Schmerzgrenze liegt niedriger als Putins

Lesezeit: 4 min

Von Julian Hans und Mike Szymanski

Putin ist jetzt wieder "sein Freund". Wenn sich Recep Tayyip Erdoğan versöhnt, dann gleich mit der ganz großen Geste. An diesem Dienstag treffen die beiden Männer in Sankt Petersburg zusammen. Erdoğan sagt: "Es wird ein historischer Besuch, ein Neuanfang. Bei den Gesprächen mit meinem Freund Wladimir wird eine neue Seite in den beiderseitigen Beziehungen aufgeschlagen."

In weniger als zehn Monaten sind Putin und Erdoğan dann einmal den Weg von engen Partnern bis an den Rand eines Krieges gegangen - und zurück.

Die Fenster der türkischen Botschaft in Moskau, die wütende Demonstranten nach dem Abschuss eines russischen Su-24-Kampfflugzeugs durch die türkische Armee Ende November eingeworfen hatten, sind längst wieder repariert. Dieser Vorfall hatte die Spannungen im türkisch-russischen Verhältnis ausgelöst. Türken und Russen haben beide einen hohen Preis dafür gezahlt. Dass am Ende die Türkei einlenkte, hat damit zu tun, dass ihre Schmerzgrenze niedriger liegt.

Sanktionen treffen Tourismus und Exportwirtschaft

An den Urlaubsstränden der sogenannten Türkischen Riviera haben Hoteliers in diesem Sommer schon gebetet, es mögen doch bitte wieder Touristen kommen. Als Strafe für den Flugzeugabsturz hatte Moskau russische Urlaubsflieger in die Türkei gestoppt. Dies und mehrere Terroranschläge in der Türkei führten dazu, dass eine Säule der Wirtschaft weggebrochen ist. Allein von den russischen Urlaubern kamen fast 90 Prozent weniger.

Die Sanktionen betreffen auch die türkische Exportwirtschaft. Der Rückgang liegt bei 60 Prozent. Kurz nach dem Abschuss zeigte sich Ankara noch optimistisch: "Wenn sich eine Tür schließt, öffnen sich andere", sagte der damalige Premier Ahmet Davutoğlu. Nun heißt es, Russland sei schwer ersetzbar.

Auf der anderen Seite ist das Verhältnis zum Westen mittlerweile von Misstrauen geprägt. Der Putschversuch vom 15. Juli hat diese Kluft nur noch tiefer werden lassen. Putin war einer der ersten Staatschefs, der Erdoğan nach dem Putschversuch anrief.

Zwar verurteilte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel öffentlich die geplante Machtübernahme durch das Militär. Aber in Deutschland und anderen europäischen Ländern wurde sofort Kritik am harten Vorgehen der türkischen Regierung gegen mutmaßliche Unterstützer der Putschisten laut. Zehntausende Beamte wurden suspendiert, es kam zu weit mehr als 10 000 Festnahmen.

Früher kam Merkel alle paar Wochen persönlich

Erdoğan beschwert sich im Gespräch mit der französischen Zeitung Le Monde über die Reaktion des Westens. Als Putin ihn wegen des Putschversuchs angerufen habe, da habe dieser nicht nach der Zahl der suspendierten Militärs gefragt. Anstatt Empathie zu zeigen, habe es im Westen Kritik gegeben. "Das hat uns traurig gestimmt."

Deutschland hat Staatssekretär Markus Ederer nach Ankara geschickt. Als es Deutschland noch wichtig war, in der Flüchtlingskrise mit der Türkei ein Abkommen zu erzielen, kam Merkel persönlich - alle paar Wochen.

Frostig ist das Verhältnis nicht nur zu Deutschland. Österreich will am liebsten die Beitrittsgespräche mit der Türkei beenden. Erdoğan streitet zudem mit Italien, weil dort die Justiz gegen seinen Sohn Bilal wegen des Vorwurfs der Geldwäsche ermittelt.

Aus Kreisen der Regierung in Ankara heißt es, der EU-Beitritt bleibe ein strategisches Ziel. Eine Herzensangelegenheit aber ist er schon lange nicht mehr. Kaum besser ist das Verhältnis zu den USA. Dort lebt Fethullah Gülen im Exil, der Mann, den Erdoğan für den Putschversuch verantwortlich macht. Gülen soll mit seinem Netzwerk in der Türkei den Staat samt Armee unterwandert haben. Ankara fordert die Auslieferung Gülens. Aber die USA verlangen Beweise.

Für Erdoğan steht der Westen auf Seiten der Putschisten. Dass US-Außenminister John Kerry erst am 24. August in die Türkei kommen will, dauert ihm zu lange. "Das ist spät, zu spät. Das macht uns traurig", sagt Erdoğan.

Putin reicht vom Westen bedrängten Regierungen öfter die Hand

Putin ist geübt darin, Regierungen die Hand zu reichen, die durch die Prinzipien der Europäer oder Amerikaner in Bedrängnis geraten sind. Während der Finanzkrise zum Beispiel bot sich Russland an als Retter von Zyperns Banken. Wegen der griechischen Schuldenkrise empfing Putin zwei Mal Regierungschef Alexis Tsipras. In beiden Fällen gab es kein greifbares Ergebnis, aber immerhin war Moskau im Spiel.

Bei den Türken hatte sich Putin nach dem Abschuss des Jets über den "Stoß in den Rücken" empört, den diese Russland im Kampf gegen den Terror versetzt hätten. Über Monate stellte das russische Staatsfernsehen Erdoğan als heimlichen Terrorhelfer des sogenannten Islamischen Staates dar. Doch seit sich der türkische Präsident am 27. Juni schriftlich für den Abschuss entschuldigt hat - wenngleich nicht bei Putin, wie von diesem gefordert, sondern bei der Familie des getöteten Piloten - hat sich der Ton gewandelt.

Nach dem Abschuss begann Moskau, Waffen an die Kurden zu liefern

Das Treffen an diesem Dienstag sei für beide Seiten "von größter Bedeutung", sagt Putins außenpolitischer Berater Jurij Uschakow. Wenngleich nicht zu erwarten sei, dass dabei neue Verträge unterschrieben würden. Es kommt wohl mehr auf die Geste an als auf den Inhalt. Demnach werden die beiden Präsidenten zunächst unter vier Augen sprechen, bevor sie einige Minister zu einem Arbeitsfrühstück dazuholen.

Am Abend gibt es noch ein Treffen mit Wirtschaftsvertretern, bei dem unter anderem Gazprom-Chef Alexej Miller dabei sein soll. Womöglich geht es auch um das Projekt "Turkish Stream", jene Pipeline, die russisches Gas über den Grund des Schwarzen Meeres an die türkische Küste bringen soll - und von dort zur griechischen Grenze und damit zu den europäischen Verbrauchern. Wegen des Konflikts mit Ankara lag das Projekt auf Eis.

Wichtiger noch für Erdoğans Einlenken dürfte allerdings gewesen sein, dass Moskau nach dem Abschuss seines Flugzeugs damit begann, Waffen an die Kurden in Syrien zu liefern. In den vergangenen Wochen hatten die USA und Russland zudem einen neuen Versuch gestartet, ihr Vorgehen in Syrien abzustimmen. Mitte Juli sprach US-Außenminister Kerry zwei Tage lang in Moskau mit Putin und Außenminister Sergej Lawrow - eine Entwicklung, die Ankara Sorgen bereiten musste. Wenn Amerikaner und Russen beide die Kurden unterstützen, die ihren Kampf für ein unabhängiges Kurdistan nicht nur gegen Syriens Machthaber Baschar al-Assad führen, sondern auch gegen die Türkei, hat am Ende Ankara das Nachsehen. Erdoğan kann sehr beweglich sein, wenn er befürchtet, auf der Seite der Verlierer zu stehen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3112792
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 09.08.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.