Süddeutsche Zeitung

Formel 1 in Katar:Erstaunliche Ignoranz

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Bahrain, VAE, Saudi Arabien und nun Katar: In der Formel 1 hat der blinde Griff in Geldspeicher Tradition, doch ihr neues Reise-Quartett am Golf konterkariert alle Debatten über Sportswashing.

Kommentar von Philipp Schneider

Zu Beginn ein Gedankenspiel. Wie hätte die Formel 1 die Fortsetzung ihrer imposanten Expansion am Arabischen Golf eigentlich begründet, hätte nicht vor eineinhalb Jahren ein nicht minder invasives Virus auf einem Fischmarkt in Wuhan seinen Siegeszug um den Planeten gestartet? Vielleicht so: Tolle Strecke! Klimatisch stabil. Regen? Pff! Und, bitte festhalten: offiziell zertifiziert für ein Rennen bei Flutlicht!

Vermutlich wäre Formel-1-Boss Stefano Domenicali schon etwas eingefallen, womit er die Welt in warmen Worten darauf vorbereitet hätte, dass die Formel 1 nun auch noch Station in Katar macht. Wo nach Angaben des Guardian seit der Vergabe der Fußball-WM 2022 an das Emirat im Dezember 2010 auf den Baustellen 6500 Arbeitsmigranten verstorben sein sollen. Aber, so ein Glück: Dank Pandemie muss er das gar nicht. Das Emirat springt ja im Kalender zunächst nur ein für Melbourne. "Wir haben gezeigt, dass wir anpassungsfähig sind", kann Domenicali also sagen.

Aber wie. Und wenn sie sich schon mal an die Katarer angepasst hat, dann kann die Rennserie doch von 2023 an gleich noch zehn weitere Jahre bleiben, was en passant vereinbart wurde. Zehn Jahre! Das klingt nicht nach Adaption. Eher nach einem Bund fürs Leben. Und Liebe macht bekanntlich blind. Denn ihr neues Reise-Quartett zu den Monarchien am Golf zeugt von einer Ignoranz gegenüber allen Debatten über Sportswashing, jener Kunst von Potentaten, mit der Inszenierung von Sport-Großereignissen vom Unrecht im eigenen Land abzulenken, die sprachlos macht. Die Formel 1 soll "das Schaufenster" der Katarer in den Jahren nach der WM sein, so heißt es allen Ernstes in der Pressemitteilung. Man wird sehen, ob das Land dort auch ausstellt, was Amnesty International auf SZ-Anfrage mitteilte: dass Arbeitsmigranten "noch immer unter prekären und teilweise katastrophalen Bedingungen leben und arbeiten". Und dass bis zu 70 Prozent der Todesfälle unter Arbeitsmigranten ungeklärt sein könnten.

50 Millionen Pfund zahlt allein Saudi-Arabien angeblich jährlich an die Formel 1

Los geht nun erstmals ein Saisonfinale Ende November mit einem Rennen in Katar. Zwei Wochen später debütiert der PS-Zirkus in Saudi-Arabien, dessen Kronprinz im Verdacht steht, für die Ermordung des Journalisten Jamal Kashoggi verantwortlich zu sein. Wieder eine Woche später zieht der Tross weiter nach Abu Dhabi. Und weil die Saison schon gestartet ist auf der Wüsteninsel Bahrain, verfährt sich die Zukunft der Formel 1 eher im Sand als auf den Traditionsstrecken in Europa. Nürburgring? Hockenheim? Kein Öl, keine Subventionen, dort gibt es nur Fans. Mit Corona hat das nur am Rand zu tun. Jenem Rand, der der Formel 1 im Vorjahr leere Tribünen, lediglich 17 Rennen und finanzielle Einbußen bescherte.

Zum "Wohle des Unternehmens", sagte Domenicali, zum Wohle also der Formel 1, wird seither gebrettert, als gäbe es keine Urlaubstage. 23 Rennen in 245 Tagen sind für 2022 geplant. Schon jetzt gibt es Berichte über Mitarbeiter, die nach drei Rennen an drei Sonntagen nacheinander wie Zombies durchs Fahrerlager laufen. Dollars müssen fließen, solang das Öl noch strömen darf. 50 Millionen Pfund zahlt allein Saudi-Arabien angeblich jährlich an die Formel 1. Das reicht für ein paar Tankfüllungen. Die Rennwagen schlucken 45 Liter auf 100 Kilometer.

Der blinde Griff in die Geldspeicher hat Tradition. Als noch Bernie Ecclestone Vermarkter war, da antwortete der ehemalige Gebrauchtwagenhändler mit der Gegenfrage, was Menschenrechte überhaupt seien. Nur dachte man, die Zeiten hätten sich selbst in der Formel 1 gewandelt. Auf der Flucht vor Alice Schwarzer und Greta Thunberg hat sie die Grid-Girls abgeschafft und will von 2025 an klimaneutrale Treibstoffe verbrennen. Wohl nicht, weil sie Selbstverständliches verinnerlicht hat. Sondern, um zu überleben.

Indem die Formel 1 ihre Streifzüge am Golf auch noch ausweitet, enthüllt sie das Wesen von "WeRaceAsOne" als eine schillernde Hülle ohne Kern. Die Kampagne gegen Rassismus und für Menschenwürde gibt es nur, weil Wille und Worte von Sir Lewis Hamilton zu viel Wucht entfaltet haben. Im März in Bahrain wurde der siebenmalige Weltmeister deutlich: "Ich denke nicht, dass wir in Länder gehen und ignorieren sollten, was dort passiert." Wenn zur Abwechslung auch die Formel 1 mal ihre Stimme dort erheben würde, wo es zählt, dann könnte Erstaunliches geschehen: Die Potentaten müssten beweisen, dass auch sie anpassungsfähig sind.

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