Rivlin bei Gedenkstunde im Bundestag:"Rassismus, Nationalismus und Kriegstreiben dürfen sich nicht wiederholen"
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Der Bundestag gedenkt an diesem Mittwoch der Millionen Opfer des Nationalsozialismus. Anlass ist der 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945. Israels Staatspräsident Reuven Rivlin sagte in seiner Rede, welchen guten Weg Deutschland seit der Zeit des Nationalsozialismus genommen habe. Inmitten eines neuen, geeinten Europas sei Deutschland, der "Staat, der der Schrecken der Welt gewesen ist" ein "Leuchtturm" für Demokratie, Liberalismus und Menschenrechte geworden.
Doch nun breite sich in Europa wieder ein neuer Antisemitismus aus - und damit in der Folge auch Hass auf alles Fremde, sagte Rivlin. "Rassismus, Nationalismus und Kriegstreiben dürfen sich nicht wiederholen", forderte Rivlin. Deutschland, das Land, "in dem die Endlösung erdacht wurde", habe eine besondere Verantwortung im Kampf gegen den Antisemitismus und für den Schutz liberaler Werte. "Deutschland darf hier nicht versagen", sagt Rivlin. Wenn Juden in Deutschland nicht frei leben könnten, wäre dies auch sonst auf der Welt nirgendwo möglich. Der israelische Staatschef betont, er sage dies nicht als Moralprediger, sondern "als Mitstreiter".
Rivlin äußerte sich auch zum Nahost-Friedensplan, den US-Präsident Donald Trump am Dienstag vorgestellt hatte. Nach vielen Jahren politischen Stillstands gebe es endlich wieder eine Möglichkeit, die Gesprächskanäle zu öffnen. Die Vereinbarung fordere Zugeständnisse von beiden Seiten. Doch wenn man von einer tiefen Wertschätzung für Menschenleben ausgehe, müsse man über Lösungen nachdenken. "Ich bin hoffnungsvoll gestimmt."
Die Beziehungen zwischen Israel und den Palästinensern seien asymetrisch, räumte Rivlin ein. Doch wenn man eine Lösung finden wolle, gehe es vor allem darum, Vertrauen aufzubauen. Dabei könne Deutschland eine wichtige Rolle spielen: "Wir müssen Vertrauen bilden und da können Sie uns sehr helfen." Der Staatspräsident sprach von Freundschaft und wahrer Partnerschaft zwischen Israel und Deutschland.
Dass ein deutscher und ein israelischer Staatschef gemeinsam im Bundestag auftreten - das ist im Hinblick auf die deutschen Verbrechen in der Vergangenheit keine Selbstverständlichkeit. Darauf wies Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hin: Er dankte Rivlin dafür, dass er mit ihm am Montag gemeinsam durch das Lagertor des früheren Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz gegangen ist. Dort wurde der Befreiung des Lagers vor 75 Jahren gedacht.
"Die Versöhnung ist eine Gnade, die wir Deutsche nicht erhoffen konnten"
Mit den Staatschefs gingen auch die drei Holocaust-Überlebenden Peter Johann Gardosch, Hermann Höllenreiner und Pavel Taussig. Wer sich nur für einen Moment die Verlassenheit eines Kindes in Auschwitz vorstelle, möge ermessen, was es für die Überlebenden bedeutet habe, dorthin zurückzukehren, sagte der Bundespräsident.
Steinmeier dankte Rivlin auch dafür, dass er vergangene Woche als erster deutscher Bundespräsident in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem sprechen durfte. "Die Versöhnung ist eine Gnade, die wir Deutsche nicht erhoffen konnten oder gar erwarten durften", sagte Steinmeier. Sie sei auch eine Verpflichtung. Deutschland stehe an der Seite Israels.
"Die Shoah ist ein Teil deutscher Geschichte und Identität", betonte Steinmeier. Doch für eine junge Generation werde man neue Formen des Gedenkens finden müssen. Gedenken dürfe nicht zum Ritual erstarren, mahnte er. Es gehe nicht darum, das Unbegreifliche der Shoah zu beschwören, "sondern wir wollen das Unermessliche ermessen, das Unfassbare erfassen, das Verlorene betrauern". Der Bundespräsident erinnerte an Bahngleise, Zugfahrpläne, die ganze grauenerregende Logistik und Bürokratie des Holocaust und die mehr als eintausend Lager. "Deutsche waren es, die das getan haben."
Wer das Geschehene verstehen will, müsse sich an die Wurzeln des nationalsozialistischen Weltbildes erinnern. Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat sei die Umkehrung des völkischen Denkens. Er stelle die Menschenwürde jedes Einzelnen ins Zentrum. "Wer das Andenken der Opfer ehren will, der muss Demokratie und Rechtsstaat schützen, wo immer sie in Frage gestellt sind."
Steinmeier wies auf bedenkliche Entwicklungen der jüngeren Zeit hin, auf Angriffe gegen einzelne Juden, die Attacke eines Rechtsterroristen auf die Synagoge in Halle an der Saale oder Einschüchterungsversuche gegen Politiker oder Journalisten. Die bösen Geister der Vergangenheit zeigten sich heute in neuem Gewand. Darauf seien die Deutschen nicht vorbereitet gewesen. Doch sie müssten diese Prüfung bestehen. "Das sind wir der Verantwortung vor der Geschichte, den Opfern und auch den Überlebenden schuldig."
Bundestagsgedenken seit 1996
Eröffnet wurde die Sonderveranstaltung zuvor von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Die Erinnerung an Auschwitz sei eng verbunden mit der Verpflichtung zum Schutz der Würde des Menschen - und der Verantwortung für die Existenz und Sicherheit des Staates Israel, sagt er. Es gebe immer wieder Versuche, das Verbrechen kleinzureden oder umzudeuten. Das werde nicht gelingen. Es gebe in Deutschland ein Grundverständnis, historische Verantwortung anzunehmen. "Wer an diesem Fundament rüttelt, wird scheitern", bekräftigt Schäuble. Die Zivilgesellschaft habe verstanden, "dass das Geschehene nicht vergangen ist".
Am 27. Januar 1945 hatten Einheiten der sowjetischen Roten Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager im von der Wehrmacht besetzten Polen erreicht und mehr als 7000 überlebende Häftlinge befreit. In Auschwitz hatten die Nationalsozialisten zwischen 1940 und 1945 mehr als eine Million Juden und Zehntausende Polen, Sinti und Roma sowie sowjetische Kriegsgefangene ermordet.
In Deutschland ist der 27. Januar seit 1996 ein gesetzlich festgelegter Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Bei der Gedenkstunde im Bundestag erinnern meist Überlebende in oft sehr persönlichen, bewegenden und erschütternden Reden an die Schrecken des Holocaust. In den vergangenen Jahren sprachen neben anderen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, die Schriftstellerin Inge Deutschkron, die deutsch-britische Cellistin Anita Lasker-Wallfisch und der israelische Historiker Saul Friedländer. Der russische Schriftsteller Daniil Granin erinnerte an die Belagerung Leningrads.
Reuven Rivlin ist nicht der erste israelische Staatschef, der zum Gedenktag im Bundestag spricht. 2010 bezeichnete Shimon Peres die Freundschaft zwischen Deutschland und Israel als "einzigartig", gerade weil man sich "der Finsternis, die im Todestal der Vergangenheit herrschte" bewusst sei.