Süddeutsche Zeitung

Osteuropa:Aufgerieben zwischen Imperien

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Jarosław Kuisz und Karolina Wigura erklären, warum der Westen die Wünsche und Sorgen der Osteuropäer noch immer nicht verstanden hat.

Rezension von Nicolas Freund

Die Grundthese dieses Buches lässt sich gut mit den Scorpions erklären. Die Zeile in deren Wende-Hymne "Wind of Change" hatte in West- und Osteuropa keineswegs dieselbe Bedeutung. Während der Zusammenbruch der Sowjetunion im Westen in erster Linie einen ideologischen Sieg und das Ende der atomaren Bedrohung bedeutete, läutete er in Osteuropa einen "Tsunami der Souveränität" ein. Damit ging keineswegs Francis Fukuyamas "Ende der Geschichte" einher, im Gegenteil, es kehrten Staaten zurück, andere verschwanden und wieder andere zerfielen. In der Geschichte des oft gewaltsamen Entstehens und Vergehens von Staaten in Osteuropa hatte nur ein weiteres Kapitel begonnen, und diese Erfahrung hat bis heute Einfluss, wenn zum Beispiel über ein mögliches Ende des Krieges in der Ukraine diskutiert wird. Der Westen Europas hat diesen fundamentalen Unterschied aber nie richtig begriffen. Jarosław Kuisz und Karolina Wigura, beide Professoren an der Universität Warschau, beschreiben dieses kollektive Gefühl in Osteuropa oder Mittelosteuropa, wie sie die Region nennen, mit dem Begriff der Posttraumatischen Souveränität.

Die Blicke reichen zurück bis in die Jahre 1938/39

Dabei sind die Unterschiede innerhalb Osteuropas noch einmal erheblich: Von Finnland, das sich lange selbstbewusst zwischen dem Westen und der Sowjetunion behauptete, bis zu Belarus, das die Nähe zu Moskaus suchte und gerade dabei ist, seine Souveränität nach und nach wieder zu verlieren. Die Angst vor genau diesem drohenden Verlust ist es nämlich, die viele gesellschaftliche Strömungen und politische Entscheidungen der Staaten im Osten Europas beeinflusst. Denn das Trauma, zwischen Imperien aufgerieben worden zu sein, sitzt dort noch immer tief. Kuisz und Wigura erklären damit zum Beispiel das Misstrauen, das vor allem in Polen und im Baltikum - wie man nun weiß berechtigterweise - gegenüber der engen Zusammenarbeit Berlins und Moskaus herrschte und das sogar mit dem Hitler-Stalin-Pakt verglichen wurde. Auch die Forderung, die Ukraine solle um des Friedens willen Territorium an Russland abgeben, werde in Osteuropa wegen des Münchner Abkommens von 1938 als nicht friedensstiftend, ja sogar als gefährliche Wiederholung der Geschichte wahrgenommen.

Kuisz und Wiguras Buch ist in seiner Kürze eine treffende Analyse der aktuellen und historischen Lage der Staaten Osteuropas und ein wichtiger Beitrag zum politischen und emotionalen Verständnis zwischen Ost und West, für das, wie dieser Text zeigt, noch immer selbst die Begriffe fehlen.

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