Süddeutsche Zeitung

Rassismus:Der Abschied vom R-Wort naht

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Immer mehr Politiker sind sich einig: Der Begriff "Rasse" soll aus dem Grundgesetz verschwinden. Doch soll man ihn streichen - oder ersetzen?

Von Matthias Drobinski, Frankfurt

Es tritt ans Rednerpult, das an diesem Tag aus Corona-Schutzgründen nicht im engen Mainzer Landtag steht, sondern in der großen Rheingoldhalle: Giorgina Kazungu-Haß, SPD-Abgeordnete, 42 Jahre alt, gelernte Lehrerin, vor fünf Jahren noch Konrektorin einer Gesamtschule. "In diesem Raum sitzen 101 Abgeordnete", sagt sie, "davon sind 100 nicht von Rassismus betroffene Menschen - und eine von Rassismus betroffene Person."

Giorgina Kazungu-Haß hat kenianische Wurzeln, vor zwei Jahren ging sie durch die Medien, als ein Schaffner sie, ihren Mann und ihre Kinder aus dem Erste-Klasse-Abteil vertreiben wollte und sie den Vorfall öffentlich machte. "Der Begriff 'Rasse' muss raus aus der Verfassung", sagt sie. Das sei für sie mehr als eine Frage der Begrifflichkeit. "Wir wollen bestimmen, wer wir sind", sagt sie, "und was wir auf keinen Fall sind: eine andere Rasse. Wir sind Menschen."

Zwei Mal steht das Wort "Rasse" in der Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz. Artikel 4 legt fest, dass der Staat Beleidigungen verfolgen muss, die sich gegen Menschen "wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Rasse" richten; Artikel 19 garantiert den Zugang zu öffentlichen Ämtern "ohne Unterschied der Rasse". 1947 sagte die Verfassung des neu gegründeten Landes mit diesen Formulierungen ein klares Nein zur Rassenideologie der Nationalsozialisten. In vielen Landesverfassungen steht, dass niemand wegen seiner Rassenzugehörigkeit benachteiligt oder diskriminiert werden darf, auch im Grundgesetz für die Bundesrepublik heißt es im Artikel 3: "Niemand darf wegen (...) seiner Rasse (...) benachteiligt oder bevorzugt werden."

In Frankreich wurde "Rasse" schon vor zwei Jahren aus der Verfassung gestrichen

Nur sind sich aber die Genetiker und Humanbiologen seit Längerem einig, dass die Menschen zwar verschiedene Nasen, Wangen, Ohren, Haar-, Augen- und Hautfarben haben mögen, dennoch aber genetisch einer einzigen Menschenrasse angehören. Aus dieser Perspektive ist der Rasse-Begriff auch dann überholt, wenn er in bester Absicht verwendet wird. Überhaupt sind die Zweifel gewachsen, dass sich das Wort überhaupt in guter Absicht gebrauchen lässt: Verfestigt und tradiert es nicht genau die Einteilung der Menschheit in verschiedenwertige Rassen, die es bekämpfen will?

Vor zwei Jahren beschloss die französische Nationalversammlung einstimmig, das Wort "Rasse" ersatzlos aus der Verfassung zu streichen. In Thüringen ist das Wort Rasse mittlerweile durch "ethnische Zugehörigkeit" ersetzt. Die Debatte über offenkundigen oder verdeckten Rassismus auch in Deutschland beschleunigt nun die Diskussion. Die Grünen im Bund wollen das Grundgesetz entsprechend ändern, in Sachsen und Hessen gibt es Initiativen zur Korrektur der Landesverfassungen.

Die Menschen müssten "den Rassismus aktiv verlernen", fordern die Grünen

Am konkretesten ist derzeit aber die Diskussion im Mainzer Landtag; auf Antrag der FDP diskutierte er vergangenen Mittwoch, ob und wie das R-Wort aus der Verfassung verschwinden könnte. Die Grünen und die SPD wollen dies mit aller Macht. Der Begriff sei im Kolonialismus geprägt und dann von den Nazis benutzt worden, um die angebliche Überlegenheit der Weißen zu definieren, sagte die Grünen-Abgeordnete Pia Schellhammer in der Landtags-Debatte. Dagegen müsse man nun "den Rassismus aktiv verlernen".

Auch die FDP, die in Mainz gemeinsam mit SPD und Grünen regiert, hält den Begriff für überholt, warnt aber davor, ihn ersatzlos zu streichen - dies würde "mehr schaden als nützen und gerade die Menschen, die vor einer diskriminierenden Behandlung besonders geschützt werden sollen, schutzlos stellen", mahnte FDP-Justizminister Herbert Mertin. Deshalb tendiert die Koalition dazu, "Rasse" zu ersetzen statt zu streichen, zum Beispiel wie in Thüringen durch "ethnische Herkunft".

Selbst die CDU sieht die Probleme nur in der Handhabe

Auch Bernhard Henter von der oppositionellen CDU verwies auf die Schwierigkeiten einer Verfassungsänderung - wie lässt sich Rassismus verfolgen und bestrafen, wenn der Begriff Rasse zumindest als juristisches Konstrukt nicht mehr vorkommt? Aber auch die CDU im Landtag will sich einer Verfassungsänderung nicht verschließen - so zeichnet sich die notwendige breite Mehrheit zumindest für eine Prüfung des Vorhabens ab. Einzig der AfD-Vertreter Uwe Junge sprach von einer "ideologischen Symboldebatte ohne jede Wirkung".

Nun soll der wissenschaftliche Dienst des Landtags erst einmal ein Gutachten vorlegen, SPD, Grüne, FDP und CDU wollen sich mit Juristen, Linguisten, den Erforschern gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit beraten: Geht es auch ohne "Rasse" in der Verfassung?

Es muss, appelliert Giorgina Kazungu-Haß an die 100 nichtschwarzen Abgeordneten. Weil sonst die abwertenden Stereotype bleiben: "Menschen wie ich werden gerne als temperamentvolle, lustige, emotionsgesteuerte, eher chaotische Typen gezeichnet. Versuchen Sie mal, mit dieser Typenbeschreibung eine Führungsposition zu bekommen - oder ein Abgeordnetenmandat."

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SZ vom 30.06.2020
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