Süddeutsche Zeitung

Holocaust-Gedenken im Bundestag:"Nie wieder! Nie wieder!"

Lesezeit: 4 min

Die Holocaust-Überlebende Inge Auerbacher ruft im Bundestag dazu auf, den alltäglichen Judenhass zu beenden. Israels Parlamentspräsident Mickey Levy dankt für die deutsch-israelische Zusammenarbeit.

Von Ramona Dinauer, Berlin

"Wer bin ich? Ich bin ein jüdisches Mädel aus dem badischen Dorf Kippenheim", beginnt Inge Auerbacher ihre Rede im Bundestag. Ihr Vater, ein Textilhändler, hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft und dafür das Eiserne Kreuz erhalten. "Wir waren eine glückliche Gemeinde in Kippenheim, bis der Friede unseres Dorfes gestört wurde."

So erinnert sich die 87-Jährige an die Reichspogromnacht 1938. In dieser Nacht schmissen Nationalsozialisten Backsteine in die Fenster des Hauses von Auerbachers Familie; alle jüdischen männlichen Dorfbewohner über 16 Jahren wurden ins Konzentrationslager Dachau deportiert. Bald merkte Auerbacher, dass sich Juden nicht mehr frei bewegen durften. Mit sechs Jahren musste sie mit einem aufgenähten Judenstern jeden Tag alleine mit dem Zug nach Stuttgart zur Schule fahren. Als ihr Vater Wochen später wieder aus dem KZ zurückkehrte, war es für die Familie bereits zu spät, um aus Deutschland auszuwandern.

1942 musste sich Auerbachers Familie in Göppingen einfinden, ohne zu wissen, wohin man sie bringen würde. "Ein Aufseher riss mir meine Holzbrosche ab und rief: Das brauchst du nicht mehr, wo du hingehst." Es dauerte zwei Tage, bis die Familie in einem überfüllten Zug die besetzte Tschechoslowakei erreichte. Eindrucksvoll erzählt Inge Auerbacher den Abgeordneten von den Zuständen im Ghetto Theresienstadt: "Überall wimmelte es von Menschen. Theresienstadt bestand aus riesigen Backsteinkasernen. Das KZ war von der Außenwelt von hohen Mauern und Stacheldraht abgeschlossen."

Theresienstadt diente als Durchgangsort für Juden, bevor sie nach Auschwitz deportiert wurden. So auch ein Mädchen, mit dem sich Auerbacher anfreundete. Die Freundinnen versprachen sich ein Wiedersehen, doch Ruth wurde keine zehn Jahre alt. "Ruth, ich bin hier in Berlin, um dich zu besuchen", ruft Auerbacher in die Höhe des Plenarsaals. "Wir waren 15 000 Kinder in Theresienstadt und nur wenige sind am Leben geblieben, darunter war wie durch ein Wunder auch ich", sagt sie.

"Judenhass ist in vielen Ländern der Welt immer noch alltäglich"

1945 wurde sie mit ihrer Familie aus Theresienstadt befreit, im Jahr darauf wanderten sie in die Vereinigten Staaten aus. "Amerika war für mich wie ein Zauberland", erzählt sie, aber aus diesem Traum sei sie herausgerissen worden, als man bei ihr Tuberkulose diagnostizierte. "Ich konnte nicht glauben, dass ich schon wieder eingesperrt war", sagte sie. Zwei Jahre lang musste sie im Krankenhaus die Erkrankung, mit der sie sich im KZ infiziert hatte, auskurieren. "Endlich, mit 15 Jahren ging ich in die Schule und absolvierte die Highschool in drei statt vier Jahren." Nach ihrem Abschluss studierte Auerbacher Biochemie und arbeitete 38 Jahre als Chemikerin in der medizinischen Forschung.

"Drei Jahre im KZ Theresienstadt, vier Jahre im Bett wegen der schweren gesundheitlichen Folgen, acht Jahre Schulverlust, vier Jahre Stigmatisierung durch das Tragen des Judensterns", resümiert Auerbacher - und beklagt, dass Rassismus und Antisemitismus wiedererwacht seien. "Judenhass ist in vielen Ländern der Welt, auch in Deutschland, immer noch alltäglich. Diese Krankheit muss so schnell wie möglich geheilt werden!", appelliert sie unter dem Beifall ihrer Zuhörer.

Am Ende ihrer Rede umarmt die alte Dame den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas und den israelischen Parlamentspräsidenten Mickey Levy, der in Berlin zu Gast ist. Es sind keine flüchtigen, symbolischen Umarmungen, sondern innige, die einige Sekunden dauern und mit einem tiefen Blick in die Augen der Politiker enden.

Auch Mickey Levy hält eine emotionale Rede. Er erzählt, wie er tags zuvor mit gemischten Gefühlen vor der Villa am Wannsee stand, das Glitzern des Wassers im Kontrast zu den Gräueln, die die Nationalsozialisten vor 80 Jahren in der Villa planten. "80 Jahre und sieben Tage sind historisch ein Nichts und reichen nicht, um alle Wunden zu heilen", sagt Levy. Deshalb sei die Erinnerungsarbeit, die Israel und Deutschland verbinde, so unerlässlich. "Die ewig ernste Mahnung des Holocaust an den Juden Europas lautet: Nie wieder, nie wieder!", ruft er in den Saal.

Levy bedankt sich bei Angela Merkel, sie habe sich unermüdlich für die Beziehung der beiden Völker eingesetzt. Deutschland und Israel sei es in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, etwas Neues zu schaffen, gemeinsam für Demokratie, Freiheit und Toleranz einzustehen. "Der Staat Israel verlässt sich auf Sie und dass Sie diese Beziehung fortsetzen werden", sagt der Präsident der Knesset und liest zum Abschluss unter Tränen ein Gebet zum Gedenken an die getöteten Juden vor. Auch einige der Gäste im Plenarsaal wischen sich nach seinen Worten Tränen über ihren Masken ab.

"Heute ist ein Tag der Scham"

Als Bärbel Bas die Veranstaltung um zehn Uhr eröffnet, erinnert sie daran, wie führende Köpfe des NS-Regimes 1942 auf der Wannseekonferenz beispielloses Unrecht in vermeintliches Recht ummünzten, und betont die Mitverantwortung der Bevölkerung: "Dieser Staat wurde von Menschen getragen. Menschen, die zu Mördern und Helfershelfern wurden. Heute ist deswegen auch ein Tag der Scham für das, was frühere Generationen Deutscher getan haben."

Die Bundestagspräsidentin appelliert, die Erinnerungskultur auch weiterhin zu pflegen, diese lasse "sich nicht von oben verordnen". Noch immer glaube ein Drittel der deutschen Bevölkerung, Juden hätten zu viel Einfluss in Deutschland. "Der Antisemitismus ist da und nicht nur am äußersten Rand", so Bas.

Musikalisch begleitet wird die Gedenkveranstaltung von sieben Musikern und Musikerinnen. Sie spielen zwei Stücke von Komponisten, die in Theresienstadt interniert waren, und zwei Lieder des jüdischen Widerstandes gegen die nationalsozialistische Terrorherrschaft.

Dann haken Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz Inge Auerbacher unter und begleiten sie aus dem Saal. Es war die 27. Feier zum "Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus", den der frühere Bundespräsident Roman Herzog als bundesweiten Gedenktag eingeführt und auf den 27. Januar gelegt hatte. Am 27. Januar 1945 hat die Rote Armee die beiden Konzentrationslager in Auschwitz und das nahegelegene Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit.

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