Süddeutsche Zeitung

Michael Kretschmer zur Russlandpolitik:"Wir schauen in einen riesigen Abgrund"

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Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer kritisiert beim Bürgergespräch erneut die Russland-Sanktionen. Dabei hatte CDU-Chef Merz solche Reden längst gerügt - als "etwas naive Haltung".

Von Iris Mayer, Riesa

In der Aula des Werner-Heisenberg-Gymnasiums im sächsischen Riesa herrscht kein Mangel an Zitaten aus Goethes Faust. "Das also war des Pudels Kern", steht da, oder "Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält" und auch "Ich bin der Geist, der stets verneint". Direkt daneben steht am Mittwochabend Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), der nach Corona-Zwangspause seine direkte Dialogreihe mit den Bürgern wiederaufgenommen hat. Kretschmer konnte nach seinem Amtsantritt 2017 mit dem Bürgergespräch viele Sympathiepunkte sammeln, später aber wurde er dafür kritisiert, dass Reden selbst mit Corona-Leugnern einer lauten Minderheit zu viel Gehör verschaffe.

Laut wird es nicht in Riesa, 150 Leute sind gekommen, darunter Bürgermeister Marco Müller von der CDU, der Empfang ist freundlich. Es soll um "alle Themen gehen, die die Menschen bewegen" und dass den Menschen Kretschmer vor allem das Thema Russland bewegt, kann man seit Wochen lesen, hören und sehen. "Durch den Krieg haben sich die Dinge verschoben, wir schauen in einen riesigen Abgrund", sagt Kretschmer, er sieht Deutschland auf dem Weg in eine enorme Rezession.

Zwei Stunden lang wird er davor warnen, dass die gegen Russland gerichteten Sanktionen am Ende hier mehr Schaden anrichten würden als in Moskau. Er wird wiederholen, dass der Aggressor Russland die Ukraine völkerrechtswidrig überfallen habe, und im selben Atemzug fordern, man müsse weiter mit Moskau zusammenarbeiten: "Russland ist Realität, wir müssen mit denen klarkommen." Dass er seit Wochen in der öffentlichen Kritik steht, weil er den Krieg einfrieren will, weiß er in Riesa geschickt zu nutzen. "Es ist schon ein starkes Stück, dass man sich für den Wunsch nach Frieden entschuldigen muss", sagt Kretschmer unter dem energischen Beifall seiner Zuhörer, die mehrheitlich über 60 Jahre alt sind.

Widersprochen hat ihm allerdings auch eine gewichtige Stimme aus der eigenen Partei. Kretschmers Position sei nicht die der CDU Deutschlands, beschied ihm Parteichef Friedrich Merz mehrfach, zuletzt im Sommer-Interview am vergangenen Wochenende, trotzdem sei "er noch freundschaftlich mit ihm verbunden". Im Osten Deutschlands gebe es eine "etwas naive Haltung gegenüber Russland", analysierte Merz.

Auf den CDU-Parteitag darf man gespannt sein

Nur Stunden, bevor sein Vize Kretschmer sich in dieser "etwas naiven Haltung" mit seinem Publikum in Riesa weitgehend einig ist, hatte Merz die Generaldebatte im Bundestag eröffnet und an die "eindeutige Aufforderung" des Parlaments erinnert, der Ukraine ausreichend schwere Waffen zur Verfügung zu stellen. Nur militärische Misserfolge könnten Russland zu Verhandlungen bewegen. Zögerliche Waffenlieferungen verlängerten den Krieg und damit die wirtschaftlichen Probleme in Deutschland, hielt der Oppositionsführer dem Kanzler vor, vielleicht aber auch dem innerparteilichen Oppositionsführer Kretschmer. Man darf gespannt sein, ob und wie das von Freitag an auf dem Parteitag in Hannover diskutiert wird.

Einig sind sich beide CDU-Granden in der Fundamentalkritik an der Ampel. Das dritte Entlastungspaket sei nur ein Pflaster, sagt Kretschmer und macht ein Rechenbeispiel auf. Bisher summiere sich der jährliche Strom- und Gasverbrauch im Freistaat Sachsen auf 2,5 bis drei Milliarden Euro, bei den jetzigen Preisen würden daraus bis zu 35 Milliarden Euro, auf ganz Deutschland bezogen bis zu 700 Milliarden. Das Publikum gruselt sich.

Am Ende ist es der Elftklässler Niklas Kutschke, der die Dimension geraderückt. Wie denn der Frieden zustandekommen soll, fragt er Kretschmer, Russland werde doch nicht eher von der Ukraine ablassen, bis die russisch sei, und werde so noch viel gefährlicher. Kretschmer lobt die "klug vorgetragenen Überlegungen" und lädt Kutschke samt Klassenkameraden in seine Staatskanzlei ein. "Da können wir gerne mal reden."

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