Süddeutsche Zeitung

Polizei in München:Corona-Proteste befördern den Judenhass

Lesezeit: 4 min

82 Fälle antisemitischer Hasskriminalität wurden der Münchner Polizei im vergangenen Jahr angezeigt. Neben Attacken aus dem rechten Lager registrieren Experten vermehrt Auffälligkeiten bei Palästina-Demos.

Von Martin Bernstein

Nazi-Schmierereien an der Baustelle eines jüdischen Altenheims, ein verurteilter Rechtsterrorist, der zu einer Spontandemonstration an der Synagoge aufrufen will, Coronaleugner, die sich in einer neuen Judenverfolgung wähnen, Verschwörungsideologen, die vom globalen Einfluss jüdischer Macht- und Finanzeliten faseln, pro-palästinensische Kundgebungen, auf denen das Ende des jüdischen Staates propagiert und israelische Soldaten als Nazis dargestellt werden - aber auch antijüdische Ressentiments, die mal eben im Treppenhaus im Gespräch unter Nachbarn lautstark geäußert werden. Was Polizei, Justiz, Verfassungsschutz und die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) Bayern in diesen Tagen und Wochen berichten, ergibt ein erschreckendes Bild: Judenhass hat Konjunktur. Auch in München.

82 Fälle antisemitischer Hasskriminalität wurden der Münchner Polizei im vergangenen Jahr angezeigt - also Taten, die Ermittlungen und Strafverfolgung nach sich zogen. Gegenüber dem Vorjahr ist das eine Zunahme um 15 Prozent. Von einer bayernweit "dramatischen Entwicklung" spricht der Münchner CSU-Politiker Ludwig Spaenle, Beauftragter der Staatsregierung gegen Antisemitismus.

Am 19. Januar beschloss der Münchner Stadtrat vor diesem Hintergrund einen Aktionsplan. Wie nötig dieser ist, zeigen die aktuellsten Zahlen: In 20 Fällen von strafbarem Judenhass hat der Münchner Staatsschutz im ersten Quartal des laufenden Jahres bereits wieder Ermittlungen aufgenommen. In den allermeisten Fällen sieht die Polizei die Tatverdächtigen im rechten Spektrum. So wurden vergangenes Jahr in München 72 judenfeindliche Delikte von Tätern mit rechtsextremer Gesinnung verübt.

Bedrohungen im Internet

Drei Schwerpunkte, bei denen Judenhass sich äußert, hat die staatlich geförderte Recherchestelle Rias ausgemacht: "die (...) anhaltenden Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie, die israelfeindliche Mobilisierung im Mai und Juni sowie antisemitische Nachrichten im Internet (...) bis hin zu Bedrohungen", wie es im Bericht für das Jahr 2021 heißt, in dem Rias auch Meldungen von Vorfällen auswertet, die unterhalb der Grenzen liegen, die das Strafgesetz zieht.

In vielen Fällen wurde Judenfeindlichkeit bis hin zum offenen Hass öffentlich gezeigt oder artikuliert. "Insgesamt haben wir in München im Jahr 2021 auf 47 Versammlungen antisemitische Inhalte dokumentiert", erläutert ein Rias-Mitarbeiter auf Anfrage, "30 davon mit Coronabezug, 13 mit Bezug zur Eskalation des Terrors gegen Israel und der Reaktionen im Mai und Juni". 249 antisemitische Vorfälle hat Rias 2021 in München dokumentiert. Drei davon waren Angriffe, zwei gezielte Sachbeschädigungen, zehn Bedrohungen und zwölf Massenzuschriften, hierbei handelt es sich um E-Mails mit israelbezogenen antisemitischen Inhalten. 22 dieser Vorfälle wurden auch bei der Polizei angezeigt.

"Die Zionisten waren das Vorbild der Nazis", behauptete ein Redner am offenen Mikrofon einer Versammlung von Pandemieleugnern vor gut einem Jahr. Nur ein paar Tage später bediente ein Redner auf dem Königsplatz das verschwörungsideologische Narrativ, die Coronapandemie und die Impfungen dagegen seien Teil eines lange gehegten Plans einer globalen Elite, die Weltbevölkerung zu reduzieren, die Menschen zu unterwerfen und eine "widergöttliche Ordnung" zu installieren. Die angebliche "Elite" bezeichnete er nach Rias-Angaben mit verschiedenen antisemitischen Chiffren wie "die Rothschilds".

Auf einem Plakat bei einer Impfgegner-Veranstaltung war im Dezember das Wort "Spritzenholocaust" zu lesen, auf einem anderen das Eingangstor zum KZ Theresienstadt zu sehen mit dem Text "Impfen macht frei". Im März verhängte das Münchner Amtsgericht eine Geldstrafe wegen Volksverhetzung zu 130 Tagessätzen a 15 Euro. Gegenstand des Prozesses war eine Fotomontage mit der Aufschrift "Arbeit/Impfen macht frei" und zwei gezeichneten überdimensionierten Spritzen.

"Antidemokratische Netzwerke"

"Antisemitismus ist ein zentrales Ideologieelement der Coronaproteste", schreibt der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, im Vorwort zum aktuellen Rias-Jahresbericht. "Coronaleugner, Querdenker und ihre antidemokratischen Netzwerke" stilisierten sich dabei zu vermeintlich verfolgten Opfern, die von einer angeblich allmächtigen "Weltverschwörung" gejagt würden.

Insgesamt registrierte Rias vergangenes Jahr in München 48 Vorfälle mit Bezug zu Corona, 18 spielten sich jenseits von Versammlungen ab. Immer wieder waren und sind auf Kundgebungen in München und in den dazu mobilisierenden Telegram-Gruppen Parolen und Symbole der "QAnon"-Verschwörungserzählung zu beobachten. In seinem jüngsten Bericht schreibt der bayerische Verfassungsschutz dazu: "Sie nehmen dabei Bezug auf antisemitische Verschwörungsmotive wie die behauptete 'Weltverschwörung' einer jüdischen Finanzelite und greifen die ebenfalls antijüdisch konnotierte Ritualmordlegende auf."

Doch auch israelbezogener Antisemitismus spielte in München eine Rolle - vor allem vor dem Hintergrund des im Mai und Juni 2021 erneut eskalierenden Hamas-Terrors gegen den jüdischen Staat. So wurde auf einer Münchner Kundgebung das Ende Israels für das Jahr 2040 vorhergesagt, auf einer anderen das Vorgehen der israelischen Armee im Gaza-Streifen mit dem Holocaust gleichgesetzt. 19 solcher Vorfälle wurden Rias im vergangenen Jahr gemeldet.

"Diese wütende Stimmung, die unter den Demonstrantinnen und Demonstranten vorherrschte, erschreckte mich", berichtet die Lehrerin Alexandra Dratva, Vorstandsmitglied im Rias-Trägerverein, über eine Versammlung in München. "Vor allem die Tatsache, dass ich womöglich tagtäglich mit Menschen, die sich meinen Tod wünschen, gemeinsam einkaufen gehe, U-Bahn fahre oder auch vielleicht ihre Kinder unterrichte, beschäftigte mich ununterbrochen." Zuletzt wurde auf einer pro-palästinensischen Kundgebung am Wochenende mit der Parole "From the river to the sea" das Existenzrecht des jüdischen Staates negiert. Eine ähnliche Veranstaltung ist erneut für den kommenden Samstag angemeldet.

Generalkonsulat im Visier von Judenfeinden

Acht judenfeindliche Straftaten im Kontext "Ausländischer" oder "Religiöser Ideologie" registrierte die Münchner Polizei 2021. Ein 37 Jahre alter Afghane, der im November mehrmals gegen die Eingangstür der Münchner Synagoge auf dem Jakobsplatz spuckte, konnte gefasst und zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen verurteilt werden. Das israelische Generalkonsulat in München war nach Rias-Angaben antisemitischen Zuschriften ausgesetzt, die auch Mord- und Vergewaltigungsdrohungen enthielten.

Neben dem Gros dieser Vorfälle mit Tätern aus dem rechten, verschwörungsideologischen oder dem pro-palästinensischen Lager bereitet den Rias-Experten auch der Antisemitismus im Alltag Sorgen. Zwar klassifizierten sie zehn Vorfälle als Bedrohungen und zwei als gezielte Sachbeschädigung - viele Meldungen lagen jedoch nach Einschätzung von Rias Bayern unterhalb der Strafbarkeitsschwelle. Dies zeige, "dass sich Antisemitismus in Bayern insbesondere als relativ niedrigschwelliges Alltagsphänomen äußert" - etwa am Arbeitsplatz, in Bildungseinrichtungen oder im Wohnumfeld.

Eine starke Zunahme wurde im Online-Bereich festgestellt. Anfang Dezember ließ der Antisemitismusbeauftragte der bayerischen Justiz, Oberstaatsanwalt Andreas Franck, die Wohnung eines Verschwörungsideologen im Olympiadorf durchsuchen - der Mann soll einen bayerischen Spitzenpolitiker in einer Telegram-Gruppe mit judenfeindlichen Begriffen beleidigt haben.

Ukraine-Krieg als Vorwand

Ein großer Teil der antisemitischen Inhalte (178 Fälle) ging nach Rias-Erkenntnissen von Personen aus, die keiner politischen oder weltanschaulichen Gruppierung zuzuordnen seien. Das zeige, wie weit verbreitet Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft und damit eben auch in der "bürgerlichen Mitte" sei. "Antisemitismus ist, schlicht und ergreifend, für viele ein probates Mittel, um Unzufriedenheit zu artikulieren."

Das nächste große Thema wird derweil schon antisemitisch besetzt in Münchner Telegram-Kanälen: Russen seien die neuen Juden, heißt es da. Und unwidersprochen ist im Kanal einer Münchner Corona-Leugnerin zu lesen, Putin und Selenskij "sind alle verlogene Verbrecher, welche (...) den Globalismus / Weltkommunismus unter jüdischer Zinsknechtschaft in jeder Weise fördern".

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