Antisemitismus in München:Die alte neue Mär von der Weltverschwörung

Lesezeit: 3 Min.

"Zwangsimpfung", Corona-"Diktatur" und immer wieder die Anspielung auf eine angebliche internationale Elite, die hinter der Pandemie steckt: Antijüdische Chiffren finden sich sehr häufig auf Versammlungen der "Querdenken"-Bewegung. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Längst finden sich judenfeindliche Chiffren nicht mehr nur bei Rechtsextremisten, sondern auch bei Gegnern der Corona-Schutzmaßnahmen. Die Stadt will mit einem Aktionsplan reagieren.

Von Martin Bernstein, München

Auf einer Kundgebung von Gegnern der Corona-Schutzmaßnahmen vor dem Münchner Justizpalast wird ein Teilnehmer gesichtet, dessen äußere Erscheinung an einen stereotyp dargestellten Juden in KZ-Häftlingskleidung erinnert. Der Mann trägt ein Sträflingskostüm und eine übergroße Nase als Maske. Auf einem Plakat in der Maximiliansstraße, das Werbung für Coronaschnelltests macht, pappt ein Aufkleber, der einen "gelben Stern" mit der Inschrift "Ungeimpft" zeigt und den Schriftzug "Schon wieder?".

Eine Fotomontage, die ein Spaziergänger bei Eching entdeckt, zeigt den Eingang des KZ Auschwitz und dazu die Aufschrift "Papa, in welchem Konzentrationslager werden wir untergebracht?". Daneben ist ein Foto eines KZ-Tores zu sehen mit dem Text "Vaccine macht frei". Drei Fälle von Antisemitismus an nur einem Wochenende Mitte März.

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Die von der Staatsregierung geförderte Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) Bayern dokumentiert seit zwei Jahren, wie sich Judenhass im Freistaat äußert. Im vergangenen Jahr ist ein sprunghafter Anstieg zu verzeichnen, den auch andere Organisationen und die Polizei bestätigen. Allein in München zählte Rias 106 Vorfälle, die Polizei verfolgte 71 Delikte aus dem Bereich der antisemitischen Hasskriminalität.

In der Corona-Pandemie hat das "alte Bild von der Suche nach einem Sündenbock" (so Ludwig Spaenle, der Beauftragte der Staatsregierung gegen Antisemitismus) erschreckende Aktualität gewonnen. Die meisten zuordenbaren antisemitischen Vorfälle - nämlich knapp ein Drittel - waren 2020 laut Rias im verschwörungsideologischen Milieu zu verorten, ein Großteil davon bei Versammlungen. Und es sind beileibe nicht nur Rechtsextremisten, die dieses Bild verwenden. Verschwörungsideologen sehen in der Pandemie eine internationale "Elite" am Werk und verwenden Namen wie "Soros", "Rothschild" oder "globale Eliten" als Chiffren für Juden. Masken werden interpretiert "als äußeres Zeichen der Unterwerfung der Menschen unter diese khazarischen Jüdin" (gemeint ist die Bundeskanzlerin) und ihre "wirklichen Hintermänner ... die Ost-Juden-Mafia".

"Impfen macht frei": Abgewandelt steht der zynische Nazi-Spruch auf Masken

Am 9. Mai vor einem Jahr wird in München von Kundgebungsteilnehmern eine Fotomontage gezeigt, auf der Menschen von Uniformierten "zwangsgeimpft" werden. Das Emblem auf den Uniformen der fiktiven Impfeinheit ähnelt einem Davidstern und trägt die Aufschrift "Zion". Münchner Demonstranten vergleichen die Bundesregierung mit der NS-Diktatur und sich selbst mit den in der Shoah ermordeten Juden.

Gelbe Sterne mit der Aufschrift "Ungeimpft" sind auch in München auf Kundgebungen zu sehen, ehe die Stadt das untersagt. "Impfen macht frei": Der zynische Nazi-Spruch, der über den Toren von Konzentrationslagern stand, steht in abgewandelter Form auf Masken von Kundgebungsteilnehmern. Impfungen werden mit den Untaten des KZ-Arztes Josef Mengele gleichgesetzt und Kontaktsperren "sozialer Holocaust" genannt.

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Die Relativierung der NS-Zeit und der Shoah gehöre bei Zusammenkünften von Pandemieleugnern und Corona-Skeptikern mittlerweile zum Standardrepertoire, sagte Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, bei der Rias-Pressekonferenz vergangene Woche. Rias-Leiterin Annette Seidel-Arpaci konstatierte: "Antisemitismus ist der verschwörungstheoretische Kitt der zusammenkommenden Milieus."

Ein Blick in Telegram-Gruppen der Münchner "Querdenker"-Szene bestätigt das. Der vom Verfassungsschutz beobachtete Ex-Polizist und Corona-Leugner Karl Hilz aus München bezeichnet in einem Video die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie als "größte(n) Genozid der Menschheitsgeschichte", für den es kein Beispiel gebe, auch nicht "die Verfolgung irgendwelcher Glaubensgemeinschaften". In den Foren der Szene werden Slogans des Internet-Kults "QAnon" unwidersprochen geteilt, der laut Verfassungsschutz eine angebliche Weltverschwörung einer jüdischen Finanzelite mit der antisemitischen Ritualmordlegende kombiniert.

"Fake Jews" werden in Posts zu Nutznießern der Pandemie erklärt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur nächtlichen Ausgangssperre wird als "Sieg für George Soros" kommentiert. In den Münchner Foren wird ein jüdisches Netzwerk skizziert, das von deutschen Talk-Shows bis zur US-Zentralbank FED reichen soll, verlinkt wird auf Seiten voll offenem Judenhass. Impfungen werden als "Endlösung" bezeichnet, die Presse als "jüdische Kartellmedien".

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Verschwörungserzählungen seien entweder ohnehin schon antisemitisch, sagt Seidel-Arpaci - oder sie seien sehr anschlussfähig für offenen Antisemitismus, den Wahn von der "jüdischen Weltverschwörung". "Wir beobachten mit Sorge eine Radikalisierung im verschwörungsideologischen Milieu", bilanziert die Rias-Leiterin. "Dies ist besonders bedenklich, da Antisemitismus dazu drängt, auch zur physischen Tat zu schreiten."

Die Stadt München müsse ihrer besonderen historischen Rolle gerecht werden

Attacken auf Menschen tatsächlich oder vermeintlich jüdischen Glaubens gab und gibt es auch in München. In 13 Fällen betreute die Beratungsstelle Before 2020 Opfer von antisemitisch motivierten Übergriffen - im Jahr zuvor waren es zwei Fälle gewesen. Ein Fußballtrainer, der eine Jacke des jüdischen Sportvereins TSV Maccabi München mit einem aufgedruckten Davidstern trägt, wird im Mai 2020 im Englischen Garten von einem Mann als "jüdischer Dreckskerl" beleidigt. "Ihr seid schuld an der Corona-Scheiße!", brüllt der Täter, der ein T-Shirt mit der Aufschrift "Coronaleugner" und "Impfgegner" trägt.

Ein Radfahrer wird im September in der Münchner Innenstadt von einer Frau als "Judensau" beschimpft. In Harlaching werden zwischen Oktober und März an mehreren Autos die Reifen zerstochen und Fahrzeugteile mit Säure überschüttet, die Täter hinterlassen judenfeindliche Schmähungen in deutscher Sprache auf den Fahrzeugen. Ein Mann mit Kippa wird im März 2021 am Marienplatz antisemitisch beleidigt und angespuckt.

Vor diesem Hintergrund haben Grüne/Rosa Liste und SPD/Volt im Stadtrat im April gemeinsam einen Aktionsplan der Stadt gegen Antisemitismus gefordert. "Die Corona-Pandemie hat den in Teilen der Gesellschaft latent vorhandenen Antisemitismus erneut deutlich hervortreten lassen", sagt der Grünen-Stadtrat Dominik Krause. "Wenn die Stadt München ihrer besonderen historischen Rolle gerecht werden und einen Schutzschild gegen Antisemitismus bilden will, muss sie ihre Aktivitäten bündeln und gezielt verstärken."

© SZ vom 12.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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