Süddeutsche Zeitung

Coronavirus:Die übersehenen Opfer von Sars-CoV-2

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Von Christina Berndt

In der Demokratischen Republik Kongo sind schon 6500 Kinder an einem Virus gestorben. Aber es war nicht das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2, das die Kinder getötet hat, sondern ein altbekannter Erreger: Die Kinder sind den Masern zum Opfer gefallen. Nun haben die Masern und Covid-19 - abgesehen davon, dass beide Viruserkrankungen sind - erst einmal nichts miteinander zu tun, und doch sind die Krankheiten enger miteinander verwoben, als vielen Gesundheitsexperten lieb ist: Diese fürchten eine Rückkehr der Masern durch Covid-19.

Schon jetzt haben mehr als 20 Länder ihre Masern-Impfkampagnen ausgesetzt, weil die Gesundheitsarbeiter alle Hände voll mit dem Coronavirus zu tun haben, berichtet das Magazin Nature. Die Folgen seien drastisch. Zwar führen die Masern in reichen Ländern nur selten zum Tod, aber in armen Ländern sterben drei bis sechs Prozent der Infizierten, oft bleiben lebenslange Behinderungen zurück.

Die Masern sind nur eines von vielen Beispielen dafür, dass das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2 der Gesundheit von Menschen auf mannigfache Weise schaden kann - von psychischen Erkrankungen über Herzleiden bis hin zu Infektionskrankheiten. Dafür muss es sie nicht einmal infizieren. Dass eine Ansteckung mit Sars-CoV-2 Menschen schwer krank machen und sie sogar töten kann, ist inzwischen eine Binse.

Viele scheuen sich, zum Arzt zu gehen

Doch darüber hinaus führt die Corona-Pandemie nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Medizin zu zahllosen Kollateralschäden. Und diese entstehen auf ganz unterschiedlichen Wegen. Zum einen durch die Angst, die das neue Virus verbreitet, zum anderen durch die wirtschaftlichen und psychosozialen Folgen, die aus den gegen die Seuche ergriffenen Maßnahmen resultieren - und schließlich, doppelt indirekt, weil manche Patienten in diesen Tagen ihre Arzttermine nicht wahrnehmen.

Jüngst warnte daher die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) vor den "Stillen Opfern" durch Sars-CoV-2. "Viele Patienten scheuen sich aus Angst vor einer Infektion mit Covid-19, ärztliche Einrichtungen aufzusuchen", sagte Markus Lerch vom Vorstand der DGIM. Andere wollen den Ärzten nicht zur Last fallen. Lerch rät zwar dazu, unnötige Praxisgänge zu vermeiden, aber bei ernsthaften Beschwerden sollten Patienten bitte weiterhin zum Arzt gehen. Es könnte sonst sogar vermehrt zu Todesfällen kommen. Außerdem bräuchten gerade Menschen mit chronischen Krankheiten oft den regelmäßigen Kontakt zum Arzt, um ihren Therapien treu zu bleiben.

So bedeutet der Corona-Stress vor allem für das Herz eine besondere Belastung. Arbeitslosigkeit etwa, die nun auch infolge von Covid-19 zunimmt, erhöht bei Menschen über 50 das Herzinfarktrisiko im gleichen Maße wie Rauchen, Diabetes oder Bluthochdruck, das haben Forscher der Duke University vor ein paar Jahren errechnet. Doch die termingerechte Behandlung liegt nicht immer in der Hand der Patienten. Mitunter erhalten Krebskranke derzeit die Nachricht, dass ihre Behandlung wegen der Corona-Epidemie verschoben werden müsse. Sorgenvoll warten sie dann auf den neuen Termin - und hoffen, dass sie ihn noch erleben. Die Stiftung Deutsche Krebshilfe sah sich deshalb schon zu einem Appell genötigt: "Trotz der sich schnell ausbreitenden Covid-19-Pandemie darf die Versorgung Krebskranker unter keinen Umständen vernachlässigt werden", sagte der Vorstandsvorsitzende Gerd Nettekoven.

Psychische Erkrankungen könnten zunehmen

Eine besondere Herausforderung bedeutet die Corona-Krise zudem für Menschen mit psychischen Erkrankungen. "Wir gehen davon aus, dass wir bald eine Zunahme von Nachfragen haben werden", sagt Thomas Pollmächer, künftiger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Angst und Isolation belasten viele Menschen, zudem führt die wirtschaftliche Depression auch zur psychischen Depression, das ist aus vielen Studien bekannt. So ist die Zahl der Suizide nach der Finanzkrise 2008 in 54 Ländern der Welt um 3,3 Prozent gestiegen, wie Wissenschaftler aus Hongkong und England ermittelt haben. Sie betonten, dass auf jeden Suizid 30 bis 40 Suizidversuche und auf jeden Suizidversuch etwa zehn Menschen kommen, die ernsthaft eine Selbsttötung erwägen. Die psychischen Folgen seien also immens.

Daher fordern immer mehr Gesundheitsexperten, die medizinischen Auswirkungen der gegen Covid-19 ergriffenen Maßnahmen im Auge zu behalten. Auch der Deutsche Ethikrat mahnte zuletzt, dass diese am Ende nicht zu größeren gesundheitlichen, wirtschaftlichen und psychosozialen Schäden führen dürften als sie eigentlich verhindern sollen.

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SZ vom 09.04.2020
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