Süddeutsche Zeitung

Aufarbeitung der NS-Zeit:Kempten wagt den Blick in die Vergangenheit

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Die Stadt will untersuchen lassen, wie sich Verwaltung und Gesellschaft im Nationalsozialismus positioniert haben. Eine solche Aufarbeitung einer mittelgroßen Stadt hat in Bayern Leuchtturmcharakter.

Von Florian Fuchs, Kempten

Wer repräsentierte das NS-Regime in Kempten, wer setzte die nationalsozialistische Politik um? Gab es Handlungsspielräume, wie positionierten sich Vereine, bürgerliche Eliten, einzelne Entscheidungsträger? Kempten will all diese Fragen nun angehen, gemeinsam mit dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin startet die Stadt die wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Zeit.

Zweieinhalb Jahre dauert das Projekt, am Ende soll ein Buchmanuskript und ein Abschlussbericht für den Stadtrat stehen. Eine solch vertiefte Aufarbeitung einer mittelgroßen Stadt hat in Bayern Leuchtturmcharakter, betont der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Andreas Wirsching. "Viele andere Städte haben in diesem Bereich noch gar nichts unternommen."

Auch in Kempten gab es große Diskussionen die vergangenen Jahre, ausgelöst durch einen Vortrag von Martina Steber. Die stellvertretende Direktorin des Instituts für Zeitgeschichte hatte die Stadt aufgefordert, einen frischen Blick auf ihre Rolle in der NS-Zeit zu werfen, was nicht bei allen gut ankam.

Mit den Unterschriften zum Start des Forschungsprojekts beginnt nun die wissenschaftliche Aufarbeitung

Inzwischen, erinnert Kulturamtsleiter Martin Fink, hat sich einiges bewegt: Die Stadt hat eine Kommission für Erinnerungskultur gegründet, sie hat ein Zeitzeugenprojekt gestartet, es gibt Workshops für junge Menschen zum Themenkomplex "Kempten im Nationalsozialismus" sowie eigens konzipierte Stadtrundgänge. Mit den Unterschriften zum Start des 300 000 Euro teuren Forschungsprojekts am Mittwoch beginnt nun die richtungsweisende wissenschaftliche Aufarbeitung.

Drei Ebenen stehen dabei laut Steber im Fokus: Das Handeln der Kommunalverwaltung, die gesellschaftliche Ebene und der Blick auf die Opfer der NS-Zeit. "Gerade über die Rolle der Stadtverwaltung wissen wir noch wenig in Kempten", sagt die neu berufene Professorin für Neueste Geschichte der Universität Augsburg. Bei der Auswertung der Quellen sollen auch Spitzenbeamte und Spitzenpolitiker der damaligen Zeit im Fokus stehen: Am langjährigen Oberbürgermeister Otto Merkt etwa haben sich nicht nur die vergangenen Jahre Debatten entzündet - zwar hat er die Region unzweifelhaft positiv geprägt, er war aber auch ein Anhänger nationalsozialistischer Ideen zur Rassenhygiene.

Einfache Antworten, das zeigen vielschichtige Persönlichkeiten wie Merkt exemplarisch, wird auch das neue Forschungsprojekt nicht hervorbringen. Das gilt für die Rolle der örtlichen Vereine wie die bürgerlichen Eliten gleichermaßen. Ein Mitarbeiter des Instituts, der das Projekt bearbeiten soll, wird sich auch mit der NSDAP im Ort sowie anderen NS-Organisationen wie der Deutschen Arbeiterfront beschäftigen, die am Industriestandort im Allgäu aktiv war. Schließlich will die Stadt die Mechanismen von Ausgrenzung und Verfolgung verstehen: Wer trug dazu bei, wie funktionierten diese Mechanismen?

Nicht alle Akten der städtischen Verwaltung sind vollständig überliefert

Das Forschungsprojekt ist darauf ausgelegt, vor allem die zu den Themen vorhandenen Quellen auszuwerten, im Stadtarchiv, im Staatsarchiv in Augsburg, im Hauptstaatsarchiv sowie im Bundesarchiv. Auch kirchliche Quellen oder private Archive sowie Nachlässe wie etwa der von Otto Merkt stellen wertvolle Zeugnisse dar. Allerdings sind laut Stadt die Akten der städtischen Verwaltung nicht vollständig überliefert, was auch für Personalakten gilt. Verschiedene Komplexe werden also wenig bis bruchstückhaft zu dokumentieren sein.

"Ziel des Forschungsprojekts ist es, einen breiten Überblick zu liefern", sagt Historikerin Steber aber ohnehin. Die Quellenlage wird die Forscher leiten, welche Schlaglichter auf die Geschichte Kemptens hell ausgeleuchtet werden können. "Am Ende werden ganz neue Fragestellungen stehen", sagt Steber. "Die Geschichte des Nationalsozialismus ist mit Abschluss des Projekts nicht auserzählt."

Kempten habe sich auf den Weg gemacht, das Thema stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken

Kempten habe einen langen Weg hinter sich, sagt Oberbürgermeister Thomas Kiechle mit Blick auf die Diskussionen der vergangenen Jahre. "Es ist nicht einfach und erfordert ein Stück Mut, auf einen Teil unserer Geschichte zu schauen, auf den man nicht gerne schaut." Die Stadt habe sich aber aktiv auf den Weg gemacht, das Thema stärker ins Bewusstsein der Stadtgesellschaft und der Öffentlichkeit zu rücken.

"Wie wollen wir in Zukunft an das erinnern, was undenkbar und doch geschehen ist?", fragt Kiechle. Die Antwort auf diese Frage biete die Chance, dass sich Politik und Gesellschaft neu orientieren und eine Basis für das gemeinsame Zusammenleben finden können. Das Projekt sei so wichtig, weil der Blick in die Vergangenheit dabei helfe frühzeitig zu erkennen, wenn man sich in die falsche Richtung bewege. "Und diese Ansätze haben wir inzwischen leider wieder."

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