Süddeutsche Zeitung

FC Bayern München:Trainers liebste Stellschraube

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Der 20-jährige Niederländer Ryan Gravenberch steht kurz vor der Unterschrift beim FC Bayern. Als ungewöhnlich variabler Mittelfeldspieler könnte er die Antwort auf eine Frage sein, die in München gerade kaum jemand stellt.

Von Philipp Schneider, München

Während das Münchner Publikum am Dienstag noch damit beschäftigt war, eine Abschiedsrede seines geschätzten Stürmers Robert Lewandowski zu verarbeiten, die in ihrer Wucht und rechtlichen Unverbindlichkeit an das Ende einer Schulhofromanze erinnerte, wurde an der Säbener Straße ein Spieler zum Medizincheck erwartet, der an anderen Tagen mit größerem Bahnhof empfangen worden wäre. Für Jubel und Pomp ist beim FC Bayern derzeit allerdings kaum ein Beobachter zu haben. Angesichts der Vielzahl an ungelösten Problemen, die sich vor den Kaderverantwortlichen türmen.

Bleibt Lewandowski oder geht er? Kommt Sadio Mané? Falls ja, spielt er dann neben oder anstelle von Lewandowski? Ist der Stuttgarter Stürmer Sasa Kalajdzic ernsthaft eine Alternative für einen Weltfußballer? Und wann setzt Serge Gnabry endlich seine Unterschrift unter ein Angebot, mit dem es sich in München finanziell ganz gut auskommen lässt?

In dieser Gemengelage kann die Verkündung einer Ablöse Ryan Gravenberchs von Ajax Amsterdam, die am Dienstag kurz bevorstand, den spürbaren Verhandlungsschmerz der Klubverantwortlichen nur vorübergehend lindern. Dies ist weniger der unstrittigen Qualität des Spielers geschuldet als dem Umstand, dass Gravenberch erst 20 Jahre alt ist. Viel kann passieren nach dem Wechsel eines heiß umworbenen Talents an die Säbener Straße.

Wer sich in Gravenberchs niederländischem Umfeld umhört, der vernimmt ein ungewöhnliches Raunen und Zischen. Über diesen Gravenberch gebe es schon etwas zu sagen. Aber, psssst, bitte keinesfalls den Jungen zu hoch einhängen! Niemand dürfe auf die Idee kommen, ihn mit dem jungen Frank Rijkaard zu vergleichen. Nein? Nein!

Viele junge Talente wechselten nach München und wurden nicht glücklich

Nicht, weil er ebenfalls 1,90 Meter groß ist, auch sein Vater aus Suriname stammt und er auf endlosen Beinen durchs Mittelfeld stakst wie der große Sechser Rijkaard. Der Vergleich verbiete sich vielmehr aus pädagogischen Gründen, weil Gravenberch so verdammt talentiert sei, dass schon ein Werdegang auf einem halbwegs irdischen Weg durch die Bundesliga einem kleinen Drama gleichkäme. Man denke an Jan Schlaudraff, José Ernesto Sosa, Marcell Jansen oder Breno, die ebenfalls als junge Talente nach München wechselten und nie glücklich wurden.

Bei Ajax hatte Gravenberch noch bis 2023 Vertrag. Die Bayern, denen er mit Zulagen mehr als 20 Millionen Euro Ablöse wert sein soll, waren nicht der einzige Klub mit regelmäßigen Auftritten in der Champions League, der ihn unter Vertrag nehmen wollte. Die Scouts kennen Gravenberch schon länger.

Mit acht Jahren war Gravenberch in die berühmte Jugendakademie von Ajax gewechselt, De Toekomst, die Zukunft. Im Alter von 16 Jahren und 130 Tagen debütierte er 2018 in der Profimannschaft, womit er Clarence Seedorf als jüngsten Ajax-Profi der Historie ablöste. In der vergangenen Saison fand er unter Trainer Erik ten Hag seinen Platz in der Stammelf, in 42 Pflichtspieleinsätzen traf er dreimal, bereitete sechs Tore vor. Und auch in der A-Nationalmannschaft der Niederlande gab er im Vorjahr seinen Einstand.

Im Internet kann man sich Videos anschauen, die Gravenberch nahezu auf sämtlichen Positionen des Mittelfelds zeigen. Schlank sieht er überall aus, wendig dazu. Er spielt, als fahre eine Böe in einen dürren Ast. Und dann wäre da noch diese Kraft, die Gravenberch etwa in der Vorsaison gegen den SC Cambuur-Leeuwarden in einen Schuss legte: 25 Meter, Vollspann, eine dieser Flugbahnen, bei den der Beobachter denkt, unterwegs würde noch eine zweite und dritte Stufe gezündet.

Der variable Gravenberch hat auf dem Flügel gespielt, im offensiven Zentrum, sogar als Rechtsverteidiger. Aber am wohlsten fühlt er sich im defensiven Mittelfeld. Dort ließ ihn ten Haag neben dem wuchtigen Edson Álvarez werkeln. Der Mexikaner war der Mann fürs Grobe, Gravenberch eher zuständig für den Spielaufbau, mit gutem Auge für die freien Räume. Bei alldem ist er athletisch genug, um auch mal einzuschreiten und rechtzeitig den Fuß vor den Ball zu bekommen, wenn der Gegner einen Konter startet. Eine Eigenschaft, die durchaus gefragt ist nach den Erfahrungen der Bayern in der Vorsaison.

Julian Nagelsmann erstellt gerade Positionsprofile für seine Spieler

Leon Goretzka ließ angesichts des bevorstehenden Wechsels Gravenberchs vorausschauend mitteilen, er spüre keinerlei Eifersucht im Begehr des beliebten Platzes an der Seite von Joshua Kimmich. "Ich fürchte keine Konkurrenz. Unter Reibung entsteht Wärme und wir wollen nächstes Jahr einiges erreichen", gab Goretzka zu Protokoll. Nichts zu hören ist dagegen vom in der Vorsaison blass gebliebenen Marcel Sabitzer, dessen Zahl an Einsatzminuten schon eher weiter schrumpfen dürfte.

An welcher Stelle Trainer Julian Nagelsmann den Niederländer reiben lassen wird, das weiß nur er selbst. Das Mittelfeld ist grundsätzlich keine Problemzone, dort herrscht auch nach dem Abschied von Corentin Tolisso eher ein Überangebot. In diesem Zusammenhang ist eine Eigenschaft interessant, die Gravenberch bei Ajax zugeschrieben wird, die über seine Spielanlage hinausweist. In einer Mannschaft, die im klassischen 4-3-3 aufläuft, aber von ten Haag je nach Gegner in Nuancen variiert wird, gilt Gravenberch als des Trainers liebste Stellschraube. Verändert er Gravenberchs Rolle, wandelt sich das ganze Spiel. Nagelsmann liebt bekanntlich solche minimalinvasiven Eingriffe in die Statik. Er nutzt die Sommerpause derzeit, um Positionsprofile zu erstellen, kleine Videos, die er den Spielern aufs Handy schicken will, um sie nach einer Blitzschulung zu Einsätzen auf für sie ungewohnten Positionen zu schicken.

Gravenberch ist nicht die Antwort auf die großen Fragen beim FC Bayern, die die Fußballnation beschäftigen. Er ist eher eine Replik auf eine Frage, die gar keiner gestellt hat. Aber das muss ja nichts Schlechtes heißen.

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