Süddeutsche Zeitung

Kriegsverbrechen in der Ukraine:Das Bild des Grauens wird schärfer

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Funksprüche, Drohnenvideos, Satellitenbilder - immer mehr Beweise lassen kaum noch Zweifel daran zu, was russische Truppen in Butscha verbrochen haben.

Von Constanze von Bullion und Paul-Anton Krüger, Berlin

Immer neue Beweise belegen die Verantwortung russischer Truppen für das Massaker an Hunderten Zivilisten in Butscha nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Der Bundesnachrichtendienst hat, wie am Freitag zuerst der Spiegel berichtete, Funksprüche russischer Soldaten abgefangen, in denen diese sich über das Vorgehen in Butscha austauschen. So soll ein Soldat einem anderen geschildert haben, er habe mit Kollegen eine Person von ihrem Fahrrad geschossen. Aus Butscha gibt es mehrere Fotos, auf denen Tote zu sehen sind, die offenkundig auf einem Fahrrad fahrend erschossen wurden.

In einem Drohnenvideo, das die Rechercheplattform Bellingcat verifiziert hat, ist die Tötung einer dieser Personen ebenfalls dokumentiert. Laut dem BND lassen sich Informationen aus den Funksprüchen konkreten Opfern zuordnen. In einem anderen Funkspruch berichte ein Mann, man befrage Soldaten zunächst, dann erschieße man sie. Der ukrainische Geheimdienst hatte in den vergangenen Tagen bereits Aufnahmen von Funksprüchen veröffentlicht.

Russland bestreitet jede Verantwortlichkeit für die Gräueltaten. Allerdings belegen Satellitenbilder, dass die auf einer Hauptstraße in Butscha liegenden Leichen sich dort schon befanden, als der Ort noch vollständig unter Kontrolle der russischen Streitkräfte stand. Die abgehörten Funksprüche entkräften die russischen Dementis nun weiter. Der BND unterrichtete nach Informationen der Süddeutschen Zeitung in mehreren Gremien des Bundestags über schwerste Kriegsverbrechen russischer Soldaten. Nun gehe es darum, Quellen wie abgehörte Funksprüche mit sehr deutlichen forensischen Spuren sowie Satellitenbildern und offenem Datenmaterial wie Fotos zu kombinieren. Ziel sei es, dem Internationalen Strafgerichtshof eine möglichst akkurate Rekonstruktion der jeweiligen Tötungsaktionen vorzulegen.

Das Gesamtbild, das sich biete, zeuge von ungeheurer Brutalität, hieß es am Donnerstag in Parlamentarierkreisen in Berlin. Im Krieg gegen die Ukraine werde kein Halt vor Kindern, Frauen oder alten Menschen gemacht. Sexuelle Gewalt gegen ukrainische Frauen werde von russischen Soldaten offenbar als selbstverständlich betrachtet. Eine reguläre Kriegsführung sei offenbar nicht vorgesehen. Beobachtet werde auch der Einsatz mobiler Krematorien in Mariupol, der mutmaßlich der Verdeckung russischer Kriegsverbrechen diene.

"Nur die Spitze eines Eisbergs der Grausamkeit und Brutalität"

Der Bürgermeister von Butscha, Anatolij Fedoruk, sagte der Deutschen Welle, bis Mittwochabend seien in Butscha 320 Leichen gefunden worden. Sie würden von Spezialisten untersucht. "Aber die Zahl der entdeckten Leichen steigt mit jedem Tag", sagte Fedoruk. Er selbst habe mehrere Fälle miterlebt, in denen russische Soldaten ukrainische Zivilisten getötet hätten, sagte Fedoruk. Etwa 90 Prozent der getöteten Zivilisten wiesen Schusswunden auf.

Aus dem vom BND abgehörten Funkverkehr soll laut Spiegel auch hervorgehen, dass Mitglieder russischer Söldnertruppen wie der "Gruppe Wagner" maßgeblich an den Gräueltaten beteiligt waren. Westliche Geheimdienste haben registriert, dass Russland Wagner-Mitglieder aus Libyen, der Zentralafrikanischen Republik und anderen Einsatzländern abgezogen hat, um sie in der Ukraine einsetzen zu können. Westliche Geheimdienste gehen davon aus, dass die "Gruppe Wagner" mit den russischen Nachrichtendiensten und dem Verteidigungsministerium verbunden ist.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International berichtet unter Verweis auf ukrainische Augenzeugen von weiteren Hinweisen auf Kriegsverbrechen in der Ukraine. Russische Truppen hätten demnach wiederholt unbewaffnete Menschen in deren Häusern oder auf offener Straße erschossen. In einem Fall sei eine Frau mehrfach vergewaltigt worden, nachdem ihr Mann getötet worden sei. "Die schockierenden Bilder aus Butscha sind ganz offensichtlich nur die Spitze eines Eisbergs der Grausamkeit und Brutalität", sagte Janine Uhlmannsiek, Expertin für Europa und Zentralasien bei Amnesty International in Deutschland.

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