Süddeutsche Zeitung

Sondierung:Bis die Schmerzgrenze erreicht war

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Kurz vor Mitternacht bricht die FDP die Gespräche ab. Das Protokoll eines langen, furiosen Wochenendes.

Von Robert Roßmann, Berlin

Peter Altmaier gehört nicht zu den Menschen, die sich ohne Not mit schlechter Laune beschweren. Und so ist der Kanzleramtsminister auch an diesem Sonntagmittag noch frohgemut. CDU, CSU, FDP und Grüne haben sich bei den Sondierungsgesprächen zwar gewaltig verkantet, mancher rechnet bereits vor Beginn des letzten Verhandlungstages mit dem Scheitern der Gespräche. Die Kanzlerin huscht wortlos hinter dem Rücken Horst Seehofers ins Gebäude. Doch Altmaier fährt ganz entspannt mit dem Fahrrad vor. Etwas kurzatmig ist er zwar, aber voller Hoffnung. "Wenn alle wollen, wird es klappen", sagt er. Aber wollen wirklich alle? Die Grünen bewegen sich, Merkel ist sowieso zu allem bereit. Aber was machen FDP und CSU?

Am Samstagabend, nach einem langen Verhandlungstag der Sondierer, war ein Kompromissangebot der Grünen zur Flüchtlingspolitik bekannt geworden. Die Grünen seien damit an ihre Schmerzgrenze, wenn nicht sogar über sie hinausgegangen, sagt Partei-Chef Cem Özdemir, als er am Sonntag vor der baden-württembergischen Landesvertretung zu den finalen Gesprächen erscheint. Jetzt sei es an den anderen, auch Kompromissbereitschaft zu zeigen. Dabei appelliert Özdemir mit Blick auf die weltweiten Krisen und den wachsenden Rechtspopulismus in Europa sogar an den "Patriotismus für das Land" bei den anderen Verhandlungsparteien. Wenn Politik handlungsfähig sein wolle, bedeute dies, "dass man nicht mit Maximalforderungen" operieren dürfe.

Die Grünen treten bei den Sondierungen erstaunlich geschlossen auf. Auch den Vorstoß in der Flüchtlingspolitik unterstützt die Berliner Verhandlungsdelegation einhellig. Draußen in der Partei zeigen sich aber die ersten Risse. Die Grüne Jugend etwa twittert gleich nach Bekanntwerden des grünen Angebots: "Ein Richtwert von 200 000 bei der Flüchtlingsaufnahme wäre ein extremer asylpolitischer Rechtsruck. Das dürfen Grüne nicht akzeptieren. Eine Obergrenze light mit grüner Beteiligung geht gar nicht!"

Dabei ist das Angebot der Grünen differenzierter als es der Tweet ihrer Parteijugend erscheinen lässt. Die Grünen gehen zwar auf den von der Union gewünschten Richtwert von höchstens 200 000 zusätzlichen Flüchtlingen pro Jahr ein, übernehmen ihn aber nicht als verbindliche Größe. In dem Angebot heißt es lediglich: "Seit der Wiedervereinigung hat die Zahl der Flüchtlinge insgesamt nur in fünf Jahren 200 000 überschritten." Deswegen wolle man "in diesem Rahmen auch in Zukunft handeln, gerade mit Blick auf die Integrationsmöglichkeit in den Kommunen". Das Grundrecht auf Asyl solle aber weiter gelten, da es "keine Obergrenze" kenne. Dieses Grundrecht dürfe nicht ausgehöhlt werden. "Wir stehen zur individuellen Bearbeitung jedes einzelnen Asylantrags", heißt es weiter. Außerdem machen die Grünen klar, dass sie einer Verlängerung der bis März 2018 geltenden Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär geschützte Flüchtlinge nicht zustimmen werden - und dass ihr ganzes Angebot nur für den Fall gelte, dass sich auch die anderen bewegen.

Manchmal versuchte die FDP, die CSU rechts zu überholen

Die CSU lehnt den Vorschlag der Grünen allerdings schnell als vollkommen unzureichend ab. Er sei viel zu unkonkret, um tatsächlich eine wirksame Begrenzung der Zuwanderung garantieren zu können, sagt Seehofer. Der bayerische Ministerpräsident könnte sich freuen, dass die Grünen die Zahl 200 000 übernommen haben. Mit Angela Merkel musste er fast zwei Jahre lang ringen, bis dieser Wert in ein gemeinsames Unionspapier aufgenommen wurde.

Aber Seehofer geht es nicht mehr um Chiffren. Er will ein konkretes Regelwerk, das auch in der Praxis garantiert, dass die Zahlen eingehalten werden. Außerdem hat er Markus Söder im Nacken, der im bayerischen Nachfolgestreit jede Schwäche in einem Sondierungskompromiss ausschlachten würde.

Aber auch die FDP ist nicht zufrieden. Der parlamentarische Geschäftsführer der Liberalen, Marco Buschmann, weist den Grünen-Vorschlag als "nicht sauber durchdefiniert zurück". Die Ablehnung passt zum Verhalten der Liberalen in den ganzen Sondierungen. Dort geben sie in der Flüchtlingspolitik die Hardliner - manchmal überholen sie sogar die CSU.

CDU-Verhandler berichten irritiert von einer Schlüsselszene in der Nacht zum Freitag. Da habe Seehofer im Streit um den Familiennachzug Gesprächsbereitschaft gezeigt, woraufhin sich sofort FDP-Chef Christian Lindner gemeldet und erklärt habe, Seehofer falle hier offenbar um. Die FDP werde aber standhaft bleiben. Daraufhin sei auch Seehofer wieder hart aufgetreten. Schließlich könne er sich ja nicht rechts von der FDP überholen lassen.

Da deutet sich bereits an, dass die Sondierung am Ende gar nicht an der CSU oder an den Grünen, sondern an den Liberalen scheitern könnte.

Auch am Sonntag fällt die FDP nicht als Friedensstifter auf. Wer Arbeit habe, seine Familie ernähren könne und integriert sei, solle über ein Einwanderungsgesetz einwandern und auch hierbleiben können, schlagen die Liberalen vor. Bis ein derartiges Einwanderungsgesetz wirke, solle der Familiennachzug für die subsidiär Geschützten aber für weitere zwei Jahre ausgesetzt bleiben.

Es ist ein Angebot, von dem die FDP weiß, dass es die Grünen nicht annehmen können. Ohne Ausnahmen von der Aussetzung des Familiennachzugs braucht die Grünen-Spitze gar nicht vor ihren Parteitag zu treten, der darüber entscheiden muss, ob Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden.

Bei den Grünen herrscht Ratlosigkeit. "Was sollen wir denn noch tun?", fragt einer der Verhandler. Man habe bereits in der Klima- und in der Verkehrspolitik den ersten Schritt auf die anderen Parteien zugemacht, jetzt auch in der Flüchtlingspolitik. Aber das alles zeige bei den Gesprächen offenbar keine Wirkung.

Allerdings fühlt sich am Sonntag auch die FDP von den Grünen provoziert. Jürgen Trittin hatte in einem Interview mit der Bild am Sonntag zum Auftakt der letzten Verhandlungsrunde öffentlich Konfliktlinien aufgemacht, etwa in der Klima- und der Europapolitik sowie bei den Waffenexporten. Außerdem erklärte er die Schmerzgrenze der Grünen bei der Kompromissbereitschaft für erreicht.

FDP-Vize Wolfgang Kubicki ätzt deshalb, man möge doch Trittin sofort in den Kreis der Chefverhandler "dazuholen" - offenbar sei doch er, und nicht Özdemir oder Katrin Göring-Eckardt, "der Entscheider bei den Grünen". Der Alleingang Trittins habe "großen Schaden angerichtet und das gesamte Projekt Koalition infrage gestellt", sagt ein anderer Verhandler der FDP. Es sei "ja sowieso schwierig in solchen Gesprächen mit den Grünen, schon kulturell". Aber wie solle man vorankommen, wenn die Grünen bei jedem Punkt, bei dem sie Entgegenkommen zeigten, zwei bis drei andere Punkte wieder aufmachten?

Angela Merkel wäre zu fast allen Konzessionen bereit gewesen

Anders als die Liberalen verzichtet Seehofer auf öffentliche Kritik an den Grünen. Aber auch der CSU-Chef macht klar, wie weit die Positionen - nicht nur in der Flüchtlingspolitik - noch auseinanderliegen. Seehofer will nicht nur eine Begrenzung des Familiennachzugs. Der CSU-Chef verlangt neben dem schrittweisen Abbau des Solidaritätszuschlags auch eine kleine Steuerreform, durch die Bezieher mittlerer und kleiner Einkommen entlastet werden. Und er will, dass sich die vier Parteien darauf verständigen, die Mütterrente auszubauen und Familien und Kinder stärker zu fördern.

Der wichtigste Knackpunkt, das ist am Sonntagabend aber klar, ist der Familiennachzug. Und dabei sind sich selbst CDU und CSU nicht grün. Während Merkel um des Friedens willen zu Konzessionen an die Grünen bereit ist, blockiert auf Unionsseite CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt noch deutlicher als Seehofer eine Verständigung.

Auch ein Vorgespräch von Merkel, Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU), Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), Seehofer, CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer und Dobrindt brachte offenbar keine relevanten Fortschritte. Jedenfalls zeigen Dobrindts Leute auch anschließend keine Bereitschaft, auf die Grünen zuzugehen.

Wie unangenehm der Wechsel an der Spitze der CSU-Landesgruppe für die Kanzlerin ist, zeigt sich auch an diesem Wochenende. Dobrindts Vorgängerin Gerda Hasselfeldt hatte ein vertrauensvolles Verhältnis zu Merkel. Und sie vertrat ihre Positionen eher moderat. Am Sonntag appelliert Hasselfeldt bei einer Tagung in Tutzing an das Verantwortungsbewusstsein der Sondierer in Berlin. Und mit Blick auf den Streit um den Familiennachzug von subsidiär Schutzberechtigten meint sie, es gehe doch nur um die vergleichsweise geringe Zahl von 50 000 bis 60 000 Menschen. "Da würde ich mich nicht verkämpfen", hier müsse eine Verständigung möglich sein. Was für ein Unterschied zu Dobrindts Härte in den Verhandlungen.

Und doch ist es am Ende nicht Dobrindt und seine CSU, die Merkel den dringend notwendigen Sondierungserfolg verbaut. Kurz vor Mitternacht tritt Lindner vor die Landesvertretung, seine ganze Delegation im Schlepptau. Die Liberalen hätten in den letzten Wochen zahlreiche Angebote zum Kompromiss unterbreitet, sagt Lindner. Politik lebe vom Ausgleich. Die FDP habe diese Bereitschaft zum gemeinsamen Handeln durch ihre Regierungsbeteiligungen in den Bundesländern unter Beweis gestellt.

Doch bei den Sondierungen im Bund sei es sei den vier Parteien nicht gelungen, eine Vertrauensbasis oder eine gemeinsame Idee für die Modernisierung des Landes zu finden. "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren", sagt Lindner. Trotz wochenlanger Verhandlungen gebe es noch viel zu viele Streitpunkte. Und die Übereinkünfte, die es gebe, seien mit viel Geld der Bürger erkauft oder Formelkompromisse. Einige der diskutierten Maßnahmen halte die FDP "sogar für schädlich". Die Konflikte zwischen CDU, CSU und FDP seien in vielen Bereichen einfach unüberbrückbar gewesen.

"Wir werden unsere Wählerinnen und Wähler nicht im Stich lassen", sagt Lindner bei seinem nicht Pathos-freien Auftritt. Die FDP werde ihre Grundsätze nicht verraten und breche deshalb die Sondierung ab. Dann entschwinden die Liberalen in der Nacht. Zurück bleibt eine Kanzlerin, die jetzt vor der größten Herausforderung ihrer Amtszeit steht.

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Quelle:
SZ vom 20.11.2017
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