Süddeutsche Zeitung

Regierungserklärung:"Wir haben keine Zeit zu verlieren"

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Bundeskanzler Scholz will "alles tun, was notwendig ist", um die Corona-Pandemie zu überwinden und Weichen für die Zukunft zu stellen. Der neue Oppositionschef Brinkhaus kritisiert vor allem FDP-Chef Lindner.

Eine Woche nach seiner Wahl zum Bundeskanzler hat Olaf Scholz (SPD) im Bundestag das Programm seiner Ampel-Regierung für die kommenden vier Jahre vorgestellt - ein fest etabliertes Verfahren zu Beginn einer Legislaturperiode. "Es gibt viel zu tun. Wir haben keine Zeit zu verlieren", sagte Scholz zu Beginn seiner Rede. Die Ampelkoalition wolle die Weichen für die Zukunft stellen.

Corona-Krise:

Angesichts der Pandemie appellierte Scholz an die Bürgerinnen und Bürger, Kontakte zu reduzieren, Abstand zu halten und sich impfen zu lassen. Der Kanzler zeigte sich in seiner Ansprache optimistisch, was den Kampf gegen Corona angeht: "Ja, wir werden diesen Kampf gewinnen, wir werden die Krise überwinden." Es gebe keine roten Linien in dieser Frage, seine Regierung werde "alles tun, was notwendig ist", eine Formulierung, die Scholz in fast jeder seiner Reden verwendet. Die Bundesregierung werde "nicht einen einzigen Augenblick ruhen" und "jeden nur möglichen Hebel bewegen, bis wir alle unser früheres Leben und unsere Freiheiten zurückbekommen haben". Angesichts von Morddrohungen und Fackelmärschen vor Privatwohnungen von Politikern sagte Scholz: "Wir werden es uns nicht gefallen lassen, dass eine winzige Minderheit von enthemmten Extremisten versucht, unserer gesamten Gesellschaft ihren Willen aufzuzwängen. Unsere Demokratie ist eine wehrhafte Demokratie."

Klimawandel:

Scholz stellte die Deutschen angesichts des Kampfes gegen den Klimawandel auf tiefgreifende Änderungen ein. "Jetzt liegen vor uns 23 Jahre, in denen wir aus fossilen Brennstoffen aussteigen müssen und werden", sagt er. Das sei "die größte Transformation unserer Industrie und Ökonomie seit mindestens 100 Jahren." Nur mit Hilfe des technischen Fortschritts könne Deutschland klimaneutral werden und im globalen Wettbewerb mithalten. Für das kommende Jahr kündigte der Kanzler ein umfangreiches Programm an, um Treibhausgase zu reduzieren. "Wir sind dem Pariser Klimaabkommen verpflichtet und werden zu seinem Erfolg beitragen."

Verkehr:

Die Verkehrswende sei ein zentraler Bestandteil der Klimapolitik, sagte Scholz. Der Schwerpunkt der Regierung werde auf dem Ausbau der Schiene liegen, dort sollen der Güterverkehr und die Fahrgastzahlen deutlich erhöht werden. Der Kanzler versuchte aber auch, sich auf die Seite der Autofahrer zu stellen: "Viele fahren gern mit dem Auto und das soll auch so bleiben." Es komme aber auf den Antrieb an. Im Jahr 2030 sollten in Deutschland 15 Millionen Elektroautos unterwegs sein.

Zukunftsinvestitionen:

"Es geht darum, die Fundamente für ein neues technologisches Zeitalter zu legen", sagte Scholz, und kündigte ein Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen an. Konkret seien milliardenschwere Investitionen in neue Wohnungen, Schienenwege, Ladesäulen, Offshore-Windparks, Photovoltaik-Anlagen und Stromnetze geplant "Damit die Transformation gelingt, brauchen wir eine moderne Verwaltung, die Wandel vorantreibt, statt ihn zu verzögern", sagte Scholz. Der Großteil der Investitionen solle privatwirtschaftlich erbracht werden, die Regierung werde aber dafür sorgen, "dass die Rahmenbedingungen stimmen". Hier nannte Scholz etwa Steuererleichterungen für Firmen, die in Klimaschutz und Digitalisierung investieren. Scholz machte aber auch klar: "Nicht alles, was wünschenswert ist, wird sofort machbar sein."

Gesellschaftlicher Zusammenhalt:

Der innere Zusammenhalt und die gesellschaftliche Solidarität in Deutschland seien gefährdet, erklärte Scholz. Sein Leitbild sei "eine Gesellschaft des Respekts", es sei wichtig, dass sich die Menschen im Land "bei aller Verschiedenheit gegenseitig als Gleiche unter Gleichen wahrnehmen". "Viele der Verletzungen, Kränkungen in unserer Gesellschaft haben ihre Ursache darin, dass sich Bürgerinnen und Bürger nicht genügend wahrgenommen fühlen." Scholz warb für "mehr Augenhöhe und weniger Herablassung". Die neue Regierung müsse soziale Missstände beheben. Der Kanzler nannte niedrige Löhne, prekäre Beschäftigung ohne Tarifvertrag, oder extrem steigende Mieten. Auch die Lebensperspektiven der Menschen auf dem Land und in Ostdeutschland seien im Blick zu behalten. "Missstände wie diese sind deshalb Gift für unseren Zusammenhalt", sagte Scholz.

Rechtsextremismus:

Die größte Gefahr für die Demokratie ist nach Einschätzung des Kanzlers der Rechtsextremismus. Der Schwerpunkt für die Sicherheitsbehörden in den kommenden Jahren sei der Kampf gegen diesen Extremismus und gegen organisierte Kriminalität. Die Regierung werde ein Demokratiefördergesetz auf den Weg bringen. Täter, die Hass und Hetze verbreiteten, würden identifiziert und strafrechtlich belangt, versprach Scholz.

Europa:

"Europas Einigung ist unser wichtigstes nationales Anliegen", sagte Scholz. Die Wahrung des inneren Friedens in Europa habe nichts von ihrer Aktualität verloren. Deutschland müsse durch beständiges Engagement und durch Verhandlungen Brücken bauen. Darin wolle er an die Linie seiner Vorgängerin anknüpfen. Über den Osten Europas und insbesondere den Konflikt an der ukrainisch-russischen Grenze sagte Scholz: Jede Verletzung territorialer Integrität werde "einen hohen Preis" haben. Deutschland werde dabei sich aber eng mit den europäischen und transatlantischen Verbündeten abstimmen. Vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte müsse gerade Deutschland stets versuchen, mit Gesprächen aus einer Eskalation herauszukommen. Dies solle aber nicht als deutsche Ostpolitik verstanden werden: "Ostpolitik kann im vereinten Europa nur eine europäische Ostpolitik sein."

Dank an Merkel:

Ausdrücklich wandte sich Scholz an seine Amtsvorgängerin und hob Angela Merkels Dienste für Deutschland in den vergangenen 16 Jahren hervor. Er verwies insbesondere auf den reibungslosen Regierungswechsel. Gerade der geräuschlose Machtwechsel in Berlin sei "weltweit mit viel Bewunderung und Respekt" aufgenommen worden: "Danke, Frau Dr. Merkel."

Brinkhaus gratuliert und kritisiert

Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus definierte in seiner Antwortrede das Selbstverständnis der Union: "Wir verstehen uns als Opposition innerhalb unserer repräsentativen, parlamentarischen Demokratie." An die AfD gerichtet sagte er: "Sie verstehen sich als Opposition zur parlamentarischen Demokratie. Und deswegen können wir nicht zusammenarbeiten." Der Fraktionschef von CDU und CSU - und somit Oppositionsführer - gratulierte Scholz zur neuen Rolle, kritisierte die SPD aber auch wegen ihrer Haltung zu Russland. Europas Sicherheit werde derzeit vor allem durch Russland bedroht, dies müsse SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich auch klar benennen. Auch den neuen Finanzminister Christian Lindner (FDP) kritisierte Brinkhaus scharf: Die FDP sei für nachhaltige Finanzen gewählt worden. Dieses Versprechen habe gerade einmal fünf Tage gehalten. Der nun von Lindner vorgelegte Nachtragshaushalt sei "ein Sägen an dem Fundament der Schuldenbremse", sagt der CDU-Politiker.

FDP-Fraktionschef spricht von "Heuchelei" der Union

Wegen der Drohung, den geplanten Nachtragshaushalt vom Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen, hat der neue FDP-Fraktionschef Christian Dürr den Unionsparteien Heuchelei vorgeworfen. CDU und CSU hätten im vergangenen Jahr einem Nachtragsetat mit zusätzlichen Schulden zugestimmt. "Wenn Sie jetzt gegen diese Regierung klagen wollen, müssten Sie zu allererst gegen sich selbst klagen", sagte Dürr in Richtung der Unionsfraktion. Tags zuvor hatten Brinkhaus und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt eine Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht angekündigt. Sie wendet sich gegen das Vorhaben von SPD, Grünen und FDP, den Energie- und Klimafonds um etwa 60 Milliarden Euro aufzustocken - und zwar mit Mitteln, die als Kredite zur Pandemie-Bewältigung bereits genehmigt waren, in diesem Jahr aber nicht mehr gebraucht werden.

Weidel verbindet alle Themen mit Zuwanderung

Die Co-Fraktionschefin der AfD, Alice Weidel, kritisierte die neue Regierung erwartungsgemäß mit scharfen Worten, insbesondere in der Corona-Politik. "Die Novelle des Infektionsschutzgesetzes wurde gegen alle parlamentarischen Sitten durchgepeitscht", sagte Weidel. Die Ampel brauche die "Dauerpanik" in der Bevölkerung, damit weniger über die anderen Projekte der Regierung gesprochen werden. SPD, Grüne und FDP verträten etwa eine Europapolitik, die "von deutschen Interessen nichts wissen" wolle. Insbesondere die FDP sei zu einer "Umfallerpartei" und zu einem "Steigbügelhalter für grüne Projekte" geworde. In ihrer Rede verknüpfte Weidel nahezu alle Themen in ihrer Rede mit Kritik an der Zuwanderungspolitik der neuen Regierung. Es sei verheerend, dass niemand ohne Papiere ein Restaurant betreten dürfe, die Grenzen gleichzeitig jedoch nicht gesichert seien.

Linken-Fraktionschefin mahnt mehr Gerechtigkeit an

Amira Mohamed Ali bezeichnete die Finanzpolitik der Ampel-Koalition als unsozial. "Dass einfache und mittlere Einkommen entlastet werden, davon ist keine Rede mehr", sagte die Co-Fraktionschefin der Linken. Auch die Besteuerung von Superreichen sei nicht geplant. Wenn die vom Kanzler gepriesene soziale Gerechtigkeit ein Buch wäre, wäre es "ein Buch mit leeren Seiten, mit einem lachenden Christian Lindner auf der Titelseite", so Mohamed Ali. Gerade bei Krankenpflegerinnen und -pflegern, die in der Krise Großes geleistet hätten, sei es Zeit, "zu klotzen und nicht zu kleckern". Ihre Fraktion schlage zum Beispiel 10 000 Euro Prämie vor, für all jene im Pflegebereich, die wieder in ihren Beruf zurückkehrten.

Grünen-Fraktionschefin: "Endlich ins Handeln kommen"

Die neue Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge hat der Vorgängerregierung aus CDU/CSU und SPD Zögerlichkeit vorgeworfen. "Es wurde dringend Zeit, dass dieses Land endlich eine neue Regierung bekommt", sagte Dröge bei ihrer ersten Rede in neuer Funktion im Bundestagsplenum. Unionsfraktionschef Brinkhaus warf sie vor: "Sie haben hier einen sehr energischen Vortrag gehalten, aber so energisch haben sie nicht regiert in den letzten Jahren." Die große Koalition habe immer erst gehandelt, wenn es nicht mehr anders möglich gewesen sei. Dies gelte insbesondere für den Kampf gegen den Klimawandel, beklagte Dröge. "Nirgends wurde in den letzten Jahren so wenig das Notwendige getan wie hier." Die Ampel-Regierung lege einen Koalitionsvertrag vor, "mit dem wir endlich ins Handeln kommen".

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