Süddeutsche Zeitung

Israel:Misstrauisch aus Erfahrung

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Premier Netanjahu hat seine Justizreform nur unter dem Druck einmaliger Proteste gestoppt - und soll weitere Schritte nun mit der Opposition besprechen. Allerdings zweifeln die meisten Verhandlungspartner an seiner Aufrichtigkeit.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Nun ist Israels Präsident am Zug. Noch in der Nacht nach der Ankündigung von Premierminister Benjamin Netanjahu, die Gesetzgebung zur sogenannten Justizreform vorläufig zu stoppen, hat Isaac Herzog die Regierungs- und Oppositionspolitiker zu Gesprächen eingeladen. Nach Wochen höchster Anspannung geht ein leichtes Aufatmen durchs Land. Nun soll es nicht mehr nur um Konfrontation, sondern um Kompromisse gehen. Doch die Hürden auf dem Weg zu einer Einigung sind hoch, und so schnell wird Israel nicht zur Ruhe kommen.

Das größte Hindernis: Es fehlt an Vertrauen in Netanjahus Aufrichtigkeit. In seiner Rückzugsrede hatte sich der Regierungschef zwar im staatsmännischen Ton versucht, hat sich keck in die Nachfolge des Königs Salomo und dessen biblisch-sprichwörtlicher Weisheit gestellt und von "nationaler Verantwortung" und der "Chance für einen wirklichen Dialog" gesprochen. Aber inhaltlich hat er keinerlei Zugeständnisse anklingen lassen. Zugleich hat er noch einmal Öl ins Feuer gegossen mit dem Vorwurf an die Protestbewegung, dort seien "Extremisten" am Werk, die es auf einen Bürgerkrieg angelegt hätten.

Entsprechend vorsichtig gehen die Verhandlungspartner aus der Opposition in die Gespräche. Jeder von ihnen hat seine Erfahrungen mit Netanjahu gemacht, niemand hat gute Erfahrungen gemacht. Benny Gantz von der Partei Nationale Einheit zum Beispiel, der das Gesprächsangebot als Erster freudig angenommen hatte, war von Netanjahu vor drei Jahren mit dem Versprechen der Rotation im Premiersamt in eine Koalition gelockt und dann abserviert worden. Er bekannte nun trotzdem, dass er "mit offenem Herzen" in die Verhandlungen gehen und zum Wohle Israels auf einen Kompromiss hinarbeiten wolle.

Ex-Finanzminister Lapid will sicher sein, dass es keine "Tricks und Bluffs" gibt

Deutlichere Vorbehalte äußerte Oppositionsführer Jair Lapid, den Netanjahu einst als Finanzminister feuerte. Auch seine liberale Zukunftspartei stellte noch am Dienstag ein Verhandlungsteam zusammen. Vorab wolle er aber "sicherstellen, dass es keine Tricks und Bluffs" gebe, erklärte Lapid. "Wenn er irgendetwas versucht, wird er Hunderttausende patriotische Israelis vorfinden, die entschlossen sind, für die Demokratie zu kämpfen."

Einen Spaltpilz hat Netanjahu mit seinem Dialogangebot dennoch schon in die Reihen der Opposition pflanzen können. Avigdor Lieberman von der Partei "Unser Haus Israel" will sich nach ersten Äußerungen den Gesprächen verweigern. Merav Michaeli von der Arbeitspartei scheint noch zu schwanken und legt die Priorität darauf, die Proteste weiterzuführen, um den Druck aufrechtzuerhalten.

Dies ist auch der Ziel der diversen Gruppen, die in den vergangenen drei Monaten die Massendemonstrationen mit Hunderttausenden Teilnehmern organisiert haben. "Wir werden die Demonstrationen nicht einstellen, bis der Justizputsch vollständig gestoppt ist", heißt es in einer Erklärung. Netanjahus Angebot ziele lediglich darauf ab, "den Protest zu schwächen und dann eine Diktatur zu errichten".

Trotz solch entschlossener Rhetorik ist zu erwarten, dass die Proteste während der laufenden Verhandlungen an Schwung verlieren - zumal in den nächsten Wochen auch noch ein Reigen an Feier- und Gedenktagen in Israel ansteht, der mit dem Pessach-Fest Mitte nächster Woche beginnt und mit dem 75. Jahrestag der Staatsgründung am 26. April endet.

Die Protestbewegung hat sich vor allem aus drei Gruppen gespeist: Da sind jene, die ganz grundsätzlich gegen Netanjahu und seine rechts-religiöse Regierung demonstrieren. Dazu kommen die Altvorderen, die diesen Protest mit dem Kampf gegen die Besatzung der Palästinensergebiete verbinden wollen. Die größte Fraktion aber sind jene, die allein durch die Pläne zum Umbau der Justiz auf die Straße getrieben wurden - und zumindest ein Teil von ihnen dürfte nun erst einmal die Entwicklung abwarten wollen.

Dramatischer Umfragenabsturz für Partei, Koalition und Netanjahu selbst

Ob bei den Verhandlungen am Ende etwas herauskommt, ist höchst fraglich. Netanjahu aber geht in jedem Fall geschwächt in die Gespräche. Er hat in der Causa Justizreform viele Fehler gemacht. Der erste war die Arroganz, mit der seine Regierung das heikle Vorhaben vorangetrieben hat. Der zweite war die Ignoranz, mit der er die Proteste unterschätzte. Der dritte war die Entlassung von Verteidigungsminister Joav Gallant, dessen Vergehen es war, genau jenen Dialog zu fordern, den Netanjahu einen Tag später angeboten hat.

Damit hat der Premier dem Land großen Schaden zugefügt, aber auch den eigenen Mythos beschädigt. Im jüngsten Wahlkampf hatte er noch mit dem Slogan geworben, er spiele im Vergleich zu den Kontrahenten in einer "eigenen Liga". Nun besteht konkrete Abstiegsgefahr. Die aktuellen Umfragen weisen einen dramatischen Absturz aus für seinen Likud, für seine Koalition und für ihn selbst. Gäbe es jetzt Wahlen, würde die Regierung klar die Mehrheit verfehlen. Bei der Frage nach dem bevorzugten Premierminister liegt Netanjahu erstmals hinter Gantz und Lapid. Im Falle von Gantz, der sich geschickt als Alternative zu Netanjahu bei enttäuschten Likud-Wählern anbietet, beträgt der Abstand satte sieben Prozentpunkte.

Den zumindest temporären Rückzieher bei der Justizreform empfinden die meisten Israelis nicht als weise Rettungstat, sondern als viel zu spätes taktisches Manöver. Zudem hat sich der Regierungschef nun noch mehr in die Abhängigkeit von seinen rechtsextremen Koalitionspartnern begeben. Beispiel dafür ist die Zusage an Itamar Ben-Gvir, den Minister für Nationale Sicherheit, eine neue Nationalgarde zu bilden und ihm zu unterstellen.

Aus Washington kommt schon eine erste Belohnung

Diesen Preis hatte Ben-Gvir am Montag Netanjahu abgetrotzt, im Gegenzug für das Zugeständnis, den Dialog über die Justizreform nicht zu blockieren. Eine solche Privatmiliz für einen berüchtigten Provokateur, der bereits wegen Aufhetzung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt wurde, dürfte jedoch dem israelischen Mainstream auch heute noch schwer zu vermitteln sein.

Netanjahu muss sich also bei den Verhandlungen in der Quadratur des Kreises versuchen. Er darf die Opposition nicht verprellen und muss seine Koalitionspartner bei der Stange halten. Doch weil die Krise seit jeher sein Kerngeschäft ist, verbreitet er fürs Erste Optimismus. Bei einer kleinen Pessach-Feier im Premierbüro ließ er am Dienstag launig wissen, dass am Ende der Verhandlungen zur Justizreform gewiss ein gutes Abkommen stehen werde. Wie das aussehen könnte, ließ er offen.

Eine erste Belohnung für die neue Flexibilität kam immerhin schon aus Washington. Der US-Botschafter in Israel kündigte unmittelbar nach dem Rückzieher bei der Justizreform an, dass der Regierungschef sehr bald eine Einladung zum Besuch bei Präsident Joe Biden bekommen werde. Darauf hatte Netanjahu drei Monate warten müssen. Wenn es ein angenehmer Besuch werden soll, wird er jedoch auch Biden beweisen müssen, dass er Israels Demokratie erhalten will.

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