Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Die Kanzlerin hat sich offenbar verschätzt

Lesezeit: 4 min

Von Karoline Meta Beisel, Matthias Kolb, Brüssel, und Robert Roßmann, Berlin

Wieder ein EU-Sondergipfel, wieder kein Ergebnis. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) findet, dass das kein Grund ist, sich zu grämen. "Es muss ein Kompromiss gefunden werden, bei dem die Vorteile die Nachteile überwiegen. Und wenn das heute noch nicht geht, dann wird es vor der Geschichte egal sein, ob es noch einen Tag länger gedauert hat oder nicht", kommentiert sie am Montag die Vertagung auf den Dienstag. Dass man das auch anders sehen kann, zeigen die Worte von Emmanuel Macron: Die EU gebe gerade kein gutes Bild ab: "Niemanden kann zufriedenstellen, was in all diesen Stunden passiert ist", sagt der französische Präsident, als er am Mittag das Gipfeltreffen in Brüssel verlässt.

Richtiger wäre es wohl gewesen zu sagen, "was in all diesen Stunden nicht passiert ist" - denn die Staats- und Regierungschefs sind ihrem Ziel, die Spitzenposten der EU zu verteilen, kaum nähergekommen. Eigentlich wollten sie ein Personalpaket schnüren, in dem die Himmelsrichtungen, Mann und Frau, kleine und große Staaten sowie die wichtigsten Parteifamilien angemessen beachtet werden sollten. Stattdessen gab es neuen Streit.

Der Ärger hatte sich schon am Sonntagnachmittag abgezeichnet. Normalerweise trudeln die Staats- und Regierungschefs rechtzeitig vor der vereinbarten Uhrzeit im Brüsseler Ratsgebäude ein, um noch ein paar Einzelgespräche zu führen und der Presse zu erzählen, was sie sich von dem Gipfel erhoffen. Das Treffen am Sonntag sollte um 18 Uhr beginnen. Aber auch zwei Stunden später waren längst noch nicht alle Regierungschefs im Gebäude an der Rue de la Loi angekommen.

Der Kandidaten-Plan von Osaka wurde "Sushi-Deal" genannt

Grund war heftiger Widerstand innerhalb der christdemokratischen Parteiengruppe gegen einen Plan, den Merkel am Rande des G-20-Treffens im japanischen Osaka gemeinsam mit Macron, Spaniens Premier Pedro Sánchez und dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte abgesprochen hatte und der während der Nacht zum Montag auf den Namen "Sushi-Deal" getauft wurde. Demnach hätte das Amt des Kommissionspräsidenten an die Sozialdemokraten gehen sollen, und nicht an den Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber. Im Gegenzug hätte die EVP das Amt des EU-Außenbeauftragten und des EU-Parlamentspräsidenten bekommen; die Liberalen sollten den Ratspräsidenten stellen.

Zwar hatte sich nach der Wahl abgezeichnet, dass Weber weder im Europäischen Rat noch im EU-Parlament eine Mehrheit finden würde. Für mehrere EVP-Regierungschefs war es offenbar trotzdem undenkbar, einem anderen das Feld zu überlassen. "Wir werden das Amt des Kommissionspräsidenten nicht so einfach aufgeben", sagte Irlands Premier Leo Varadkar vor Beginn des Gipfels.

Mit dem Vorschlag aus Osaka hat sich Merkel offenbar verschätzt. Sie selbst formulierte das am Montag allerdings etwas anders: Es habe gar keinen Kompromiss von Osaka gegeben. Sie habe dort lediglich die Ergebnisse eines Treffens zwischen ihr, Weber, den Unionsspitzen und dem Chef der EVP referiert, und bezog sich damit auf einen Termin am vergangenen Mittwoch in Berlin. Ratspräsident Donald Tusk jedenfalls wurde von dem Vorschlag überrascht. Eigentlich hatten die Staats- und Regierungschefs ihn damit beauftragt auszuloten, wer außer den Spitzenkandidaten Frans Timmermans und Manfred Weber noch infrage kommen könnte.

Nach der Unterbrechung am Montag bekam Merkel aber auch Lob für ihre Bemühungen, die Scherben wieder zusammenzukehren. Sie habe sich die ganze Nacht extrem angestrengt, ihre EVP-Kollegen von einem gemeinsamen Vorgehen zu überzeugen, sagte Emmanuel Macron.

In Deutschland sorgten die Nachrichten aus Brüssel in Teilen der Union für Verärgerung. CSU-Chef Markus Söder sagte, Weber müsse im Rennen bleiben. Man dürfe den "Wahlsieger" nicht auf den zweiten Platz hinter den Sozialdemokraten Timmermans setzen. Ähnlich hatte am Sonntagabend bereits CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak argumentiert. Söder sagte zu den Verhandlungen, diese seien "bislang kein Sieg der Demokratie, sondern eher ein Triumph des klassischen Hinterzimmers". Das Verfahren nutze "nur den Rechtspopulisten und Euro-Skeptikern".

Einzelne Bundestagsabgeordnete von CDU und CSU machten ihrem Ärger über das bisherige Ergebnis der Verhandlungen Merkels noch viel deutlicher Luft. Die CSU-Abgeordnete Daniela Ludwig ätzte über den von Merkel mitgetragenen Vorschlag: "Was war jetzt das Auswahlkriterium? Kein Wahlgewinner? Kein Deutscher? Muss man nicht verstehen." In der Union wurde allerdings auch darauf verwiesen, dass es Weber nun mal nicht gelungen sei, eine Mehrheit hinter sich zu bringen. Außerdem werde auch in Deutschland nicht automatisch derjenige Bundeskanzler oder Ministerpräsident, dessen Partei die meisten Stimmen erhalten hat. Dabei wurde auf Winfried Kretschmann verwiesen, dessen Grüne bei der Landtagswahl 2011 fast 15 Prozentpunkte weniger erhielten als die CDU - und der trotzdem Ministerpräsident in Baden-Württemberg wurde.

Europäische Kompromisssuche: EU-Ratspräsident Donald Tusk (rechts) führte unzählige Einzelgespräche, hier mit dem niederländischen Premier Mark Rutte.

Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich am Montag in Brüssel optimistisch, dass ein Kompromiss rasch gefunden werden könnte.

Gute Miene zum bösen Spiel: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nannte die bisher vergeblichen Kompromissuche in Brüssel ein "Versagen".

Stunde um Stunde ohne Einigung: vom Schlaf übermannte Berichterstatter beim EU-Gipfel in Brüssel.

Der Streit in der EVP ist aber nicht der einzige, den die Staats- und Regierungschefs überwinden müssen, um eine Lösung zu finden, mit der möglichst viele, im Idealfall sogar alle Regierungschefs leben können. Frans Timmermans wird dies nicht gelingen, denn der Niederländer ist für Ungarn und Polen inakzeptabel. Als Erster Vizepräsident der EU-Kommission ist er für die Rechtsstaatsverfahren gegen beide zuständig. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki betonte, dass auch Tschechien und die Slowakei gegen Timmermans seien: "Uns geht es darum, dass die Menschen, die in die Ämter gewählt werden, garantieren, dass sie vereinen und nicht attackieren werden." Dass sie mit dem nächsten Chef der EU-Kommission fünf Jahre eng zusammenarbeiten müssen, wissen natürlich alle anderen Staats- und Regierungschefs. Auch Angela Merkel machte klar, dass sie Junckers Nachfolger nicht mit knapper Mehrheit durchdrücken wolle: "Man sollte sich schon Mühe geben, dass daraus nicht über Jahre hinweg unüberbrückbare Spannungen werden, die sich dann an vielen Stellen zeigen würden."

Vielleicht hilft bei der Kompromisssuche ja ein bisschen Schlaf

Wie also soll es nun weitergehen, nach dieser Nachtsitzung, die statt eines Durchbruchs weitere Bruchlinien erzeugte? Am Dienstag um elf wollen sich die Regierungschefs erneut zusammensetzen. Auch wenn sie selbst nicht so genau wissen, was am Dienstag einfacher sein könnte als noch am Montag: "Wenn wir wüssten, was sich bis morgen ändern soll, dann hätten wir ja heute auch weitermachen können", sagte Merkel. Hinter der Vertagung steckt wohl die Hoffnung, nach einer Nacht Schlaf nicht nur wacher zu sein, sondern auch etwas klarer, wie der so dringend nötige Kompromiss aussehen könnte.

Die Zeit drängt, am Mittwoch will das Europäische Parlament einen neuen Präsidenten wählen. Die Abgeordneten lassen sich zwar nicht gerne vorschreiben, wen sie zu ihrem Anführer machen sollen. Aber so mancher Christdemokrat oder Liberale wüsste bestimmt gerne, ob er einem Parlamentspräsidenten aus seiner Partei gefahrlos seine Stimme geben kann oder ob er damit die Chancen beschädigt, dass doch noch jemand aus den eigenen Reihen Kommissionspräsident wird. Am Montag wurden in Brüssel "viele, viele Pakete" und "viele, viele Namen" diskutiert, hieß es. Auch Margrethe Vestager, Kandidatin der Liberalen, wird in fast jeder denkbaren Kombination für einen der Posten gehandelt. Und so könnte die Fortsetzung des Gipfels erneut in eine längere Sitzung münden.

Zumindest einer scheint die Lust zum Diskutieren noch nicht ganz vergangenen zu sein. "Wir freuen uns alle auf ein Wiedersehen", sagte Merkel am Montag zum Abschied. "Also ich freue mich jedenfalls."

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SZ vom 02.07.2019
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