Süddeutsche Zeitung

Große Koalition:Merkel vor dem Sturm

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Die drei Landtagswahlen im Osten werden die schwarz-rote Bundesregierung beuteln - und vielleicht zerstören. Aber das könnte auch eine Chance sein - vor allem für die Kanzlerin.

Kolumne von Heribert Prantl

Die SPD hat den Becher der Bitternis schon fast ausgetrunken; sie sieht den Boden des Bechers. Was steht dort? Steht dort: "Durchhalten"? Steht dort: "Wird schon wieder"? Steht dort der Spruch, den einst Herbert Wehner auf einen Zettel gekritzelt und Hans-Jochen Vogel zugesteckt hat: "Weitermachen und nicht verzweifeln"? In Sachsen steht auf dem Boden des Bechers "8,6 Prozent". Das war dort zuletzt das Wahlergebnis der SPD bei der Europawahl; und das Ergebnis der Landtagswahl in Sachsen am 1. September wird für die SPD nicht viel besser ausfallen.

Tiefer geht es kaum. Wenn das ein Trost sein kann, ist es einer. Es ist vielleicht deswegen einer, weil die SPD auch außerhalb Sachsens die Leidenserfahrung gemacht hat, die der CDU noch bevorsteht. Es ist ein Leiden, das sich bei der Europawahl angekündigt hat; die CDU kam auf das schlechteste Ergebnis, das sie je bei einer bundesweiten Wahl hatte. In Sachsen gewann die CDU bei der Landtagswahl von 2014 noch 59 der 60 Direktmandate; davon wird in ein paar Wochen, bei der Landtagswahl vom 1. September, ein Teil an die AfD gehen.

Nun ist Sachsen nicht die Welt und nicht unbedingt repräsentativ für das ganze Land, auch Brandenburg nicht, wo gleichfalls am 1. September gewählt wird; und selbst dann, wenn man Thüringen noch dazu nimmt, wo am 27. Oktober gewählt wird, stehen die drei Bundesländer im Osten nur für zehn Prozent der deutschen Bevölkerung. Sachsen, Brandenburg und Thüringen haben zusammengenommen 8,6 Millionen Einwohner; Nordrhein-Westfalen hat 18 Millionen, Bayern 13 Millionen. Aber die Landtagswahlen in den drei Bundesländern im Osten Deutschlands werden einen Sturm auslösen, zumal dann, wenn diese Wahlen die AfD dort zur stärksten Partei machen.

Das wird dann als Menetekel gewertet werden, das wird in der CDU zu Fundamentaldiskussionen über den Kurs der Partei führen; das wird Wasser auf die Mühlen der sogenannten Werte-Union sein, die die strikte Abgrenzung der CDU von der AfD für falsch hält und sich Koalitionen mit dieser Partei vorstellen kann.

Die sich steigernde Unruhe in einer schrumpfenden Union trifft auf den rasenden Stillstand in der geschrumpften SPD. Der Sturm, den die drei Landtagswahlen auslösen dürften, wird die schwarz-rote Koalition in Berlin beuteln und schütteln wie nichts bisher; der Drei-Wahlen-Sturm kann diese gar nicht mehr große Koalition auch zerstören.

Ein Drama, wie viele meinen, wäre das nicht. Ein Dauerdrama ist aber das hysterische Paradoxon, das diese Koalition von Anfang an begleitet; es attestiert dieser Koalition gleichzeitig ihre Notwendigkeit und ihre Unfähigkeit. Eine Koalition, der fast tagtäglich, auch aus den eigenen Reihen, ihr alsbaldiges Ende vorhergesagt wird, ist ein Bündnis auf beiderseitigen Verderb.

Ein stürmisches Ende dieser Koalition im Spätherbst oder im frühen Winter wäre daher nicht notwendigerweise ein Ende mit Schrecken. Es zwänge auch nicht automatisch zu sofortigen Neuwahlen; es brächte Angela Merkel und die Union aber wohl dazu, das gar nicht so große Risiko einer Minderheitsregierung einzugehen. Eine solche Minderheitsregierung ist in Deutschland verpönt; es gab sie bisher, selten genug, nur auf Landesebene - als rot-grüne Minderheitsregierung von 1994 bis 1998 in Sachsen-Anhalt und von 2010 bis 2012 in Nordrhein-Westfalen; als eine reine SPD-Minderheitsregierung von 1998 bis 2002 in Sachsen-Anhalt. Die Union freilich hat noch nie in einer Minderheitenkonstellation regiert.

Eine von der Union geführte Minderheitsregierung könnte Merkel nutzen, aber auch der SPD

Diese Minderheitenkonstellation ist keine Untergangsvision; sie würde Kanzlerin Angela Merkel einiges an Regierungskunst abverlangen. Aber Merkel könnte als Chefin einer Minderheitsregierung personalpolitisch ein riesiges Spielfeld besetzen; es wäre von einer Größe, wie es der Union nie zur Verfügung stand. Das könnte die Unruhe in ihrer Partei besänftigen. Annegret Kramp-Karrenbauer wiederum hätte die Möglichkeit, sich als Vizekanzlerin zu präsentieren und zu bewähren. Und Merkel hätte die Chance zu einem spektakulären Finale: In der zweiten Jahreshälfte 2020 hat Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft inne, und das Land feiert den dreißigsten Jahrestag der Wiedervereinigung. Das ist, das wäre das große Omega einer großen politischen Karriere. Dieses gloriose Ende gäbe es bei vorgezogenen Neuwahlen nicht. Dann endet die Ära Merkel stumpf.

Am Tag vor den Wahlen in Sachsen und Brandenburg, also noch in der letzten Stille vor dem Sturm, endet die Bewerbungsfrist für den Parteivorsitz der SPD. Bisher ist der Andrang nicht groß; das wird sich noch ändern; und es wird kein Schaden sein, wenn es nicht Namen aus der vordersten Reihe der Sozialdemokratie sind, die sich bewerben. Die Vordersten sind verbraucht, zermürbt und verhakt mit den alten Schröder-Geschichten.

Die Zukunftspotenziale der SPD stecken in den Bundesländern und in den Städten, in denen sie regiert. Da gibt es Frauen wie die bemerkenswerte Petra Köpping, gebürtig in Thüringen, die in Sachsen unverdrossen Politik macht, alleinerziehende Mutter von drei Kindern und zweimal Bürgermeisterin war. Seit 2014 ist sie in Dresden Ministerin für Integration und Gleichstellung.

Integration und Gleichstellung: Solche Kompetenzen kann die SPD in jeder Beziehung brauchen. Petra Köpping hat im Vergleich zu Franziska Giffey, der Bundesfamilienministerin, den Vorteil, dass sie nicht einen Doktorarbeitsärger mit sich herumschleppen muss. Und da gibt es Männer wie den Innenminister Boris Pistorius in Niedersachsen, der auch habituell ein Sozi ist und der die Rechtsstaatlichkeit höher hält als viele andere Innenminister. Die SPD ist mit solchen Leuten nicht verloren. Gewählt wird die neue Führung nach ausgiebiger Mitgliederbefragung auf dem Nikolausparteitag vom 6. bis zum 8. Dezember in Berlin. Dass sich die SPD diese lange Zeit nimmt, mag man als Saumseligkeit tadeln; es ist aber auch ein Zeichen von Souveränität in für sie existenziell schwierigen Zeiten.

Solche Souveränität wünscht man sich von der Union und der SPD im Sturm nach dem 1. September. Panik ist nämlich das Letzte, was das Land brauchen kann. Es herrscht jetzt die Ruhe vor dem Sturm. Es braucht Ruhe auch nach dem Sturm.

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Quelle:
SZ vom 10.08.2019
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