Süddeutsche Zeitung

Corona und Föderalismus:Schrittchen für Schrittchen aus dem Lockdown?

Lesezeit: 5 min

Wie die einzelnen Bundesländer sich einen Weg aus den Corona-Beschränkungen bahnen wollen - und warum sich Ministerpräsidenten im Norden zu Vorreitern berufen fühlen.

Von Peter Burghardt, Matthias Drobinski, Jan Heidtmann und Cornelius Pollmer

Die genauesten Ideen für einen allmählichen Ausstieg aus dem partiellen Lockdown kommen aus dem deutschen Norden. Ist das überraschend? Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther von der CDU und sein SPD-Kollege Stephan Weil aus Niedersachsen haben Stufenpläne vorgelegt, die bei der Länderkonferenz an diesem Mittwoch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel besprochen werden. Warum ausgerechnet sie, die bisher nicht vorangeprescht waren? Es hilft ein Blick auf die Deutschlandkarte.

Schaut man sich die Corona-Fallzahlen an, dann finden sich die helleren Flecken vor allem im Nordwesten. Landkreis Dithmarschen zum Beispiel, Schleswig-Holstein, Sieben-Tage-Inzidenz am Dienstag: 15,8. Oder Landkreis Verden, Niedersachsen: 23,3.

So kam erst Schleswig-Holsteins Jamaika-Koalition mit einem Konzept daher, es folgte die niedersächsische Groko. In beiden Fällen sollen je nach Lage bestimmte Bereiche geöffnet werden. Das Kieler Kabinett nennt vier Stufen: Bei einem Inzidenzwert von mehr als 100, also 100 Ansteckungen pro 100 000 Einwohnern in sieben Tagen, sind keine Änderungen vorgesehen. Bei stabil unter 100 sind Treffen von fünf Personen aus zwei Hausständen erlaubt sowie "elementare körpernahe Dienstleistungen", da sind besonders die Friseure gemeint. In den Kitas beginnt "eingeschränkter Regelbetrieb", in den Schulklassen eins bis sechs Wechselunterricht. Sportanlagen "für Individualsport in Außenbereichen" und Zoos werden geöffnet.

Bei sieben Tagen unter 50 ist Regelbetrieb in den Kitas, Präsenzunterricht in den unteren und Wechselunterricht in den oberen Jahrgängen vorgesehen, auch Lehrveranstaltungen an Hochschulen sind dann erlaubt. Geschäfte dürfen mit Maskenpflicht und Zugangsbeschränkung aufmachen, Restaurants mit Hygienekonzept auf der Hälfte ihrer Sitzplätze Kunden bewirten. Bei 21 Tagen unter dem Inzidenzwert 50 sind mit Schnelltests auch Hotelbetten wieder belegbar, die Gastronomie darf ohne Begrenzung der Gästezahlen, aber unter Einhaltung der Abstandsregeln arbeiten. Sport in Fitnessstudios und in Hallen und Räumen wird mit Beschränkungen zugelassen. Bei Stufe 1, sieben Tage unter 35, dürfen sich bis zu zehn Menschen mehrerer Haushalte versammeln, Bars und Kneipen aufmachen, Sportveranstaltungen mit begrenzter Zuschauerzahl stattfinden.

"Eine bundesweite Regelung" sei das Ziel, so Daniel Günther. "Nur dann können wir sicherstellen, dass die Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern hoch bleibt." Man brauche "klare Leitlinien". Die Leute müssten wissen, "auf welche Ziele wir gemeinsam hinarbeiten".

Niedersachsen hat ein noch detaillierteres System vorgestellt, gar mit sechs Stufen. Nennenswert gelockert würde erst bei weniger als 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern und je nach Bereich bei einem R-Wert von weniger als 0,8. Dies bedeutet, dass zehn Menschen im Schnitt acht Menschen anstecken. Dann wären mit Vorsichtsmaßnahmen bis zu 100 Menschen bei Veranstaltungen unter einem Dach zugelassen, darunter Kino und Theater, und Publikum beim Sport. Lokale und Hotels könnten aufmachen, alles unter Auflagen. In Kitas und Schulen wäre Präsenz möglich. Bei einer Inzidenz von unter 25 wären Niedersachsens Geschäfte wieder offen, wenn Abstand und Hygiene eingehalten werden, das gilt auch für Bars. Clubs und Discos sind erst bei Stufe 1 dran, unter zehn. Umgekehrt sollen scharfe Regeln gelten, wenn die Pandemie aus dem Ruder läuft. Man wolle künftig "früher und energischer eingreifen, wenn die Infektionszahlen zunehmen", sagt Ministerpräsident Stephan Weil. Mehr Transparenz solle der Stufenplan 2.0 schaffen - dies sei "ein Diskussionsentwurf", kein Lockerungsplan. "Veränderungen bleiben dabei immer möglich, etwa bei neuen Erkenntnissen zu der Verbreitung der britischen und südafrikanischen Virusmutationen."

"Es reicht noch nicht, wir müssen weiter vorsichtig sein", sagt Ministerpräsident Woidke

Weils Brandenburger Kollege Dietmar Woidke (ebenfalls SPD) warnt trotz der allmählich sinkenden Infektionszahlen vor Euphorie: "Es reicht noch nicht, wir müssen weiter vorsichtig sein." Zugleich stellt auch er erstmals Lockerungen in Aussicht. Diese sollen dann in umgekehrter Reihenfolge zu den Schließungen im Herbst stattfinden. "Was zuletzt eingeschränkt wurde, soll wieder zuerst aufmachen." Also Schulen und in nächsten Schritten auch sogenannte körpernahe Dienstleistungen wie Friseure. Ein Stufenplan light sozusagen.

Berlin ist im Vergleich zum Nachbarn Brandenburg zurückhaltender. Das hängt auch mit dem Vorsitz der Ministerpräsidentenkonferenz zusammen, den Berlin innehat. Diese Rolle verlangt eher nach Moderation als Provokation. "Wir wollen und müssen den Menschen aber eine Perspektive für mögliche Lockerungsschritte geben, wenn dies die Infektionszahlen hergeben", sagt Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD). "Ich erwarte daher von der Bund-Länder-Schalte am Mittwoch, dass wir uns trotz der Unsicherheiten mindestens auf einen gemeinsamen Rahmenplan einigen können." Dabei verfolgt Berlin eine ähnliche Strategie wie andere Bundesländer, die die Wiedereröffnung von Schulen, Geschäften, Sportanlagen an bestimmte Inzidenzwerte knüpfen wollen.

Deutliche Kritik am bisherigen Corona-Management äußert indes Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke), einer von zwei Stellvertretern Müllers. Er sieht die Zustimmung zu den Corona-Maßnahmen schwinden und macht dafür auch eine fehlende Strategie verantwortlich. "Wenn wir jetzt in ein paar Wochen Lockerungen versprechen und das wird dann wieder nichts, steigt nur der Frust." Statt Durchhalteparolen verlangt er, die Menschen durch Aufklärung mitzunehmen. "Viele Menschen wissen abstrakt um die Gefahr, aber es braucht noch bessere Informationen zur jeweils aktuellen Lage der Pandemie", sagt Lederer und fragt: "Was macht eigentlich die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung?"

Thüringen plant einen Alleingang, falls es keine Einigung gibt

Einen eigenen Stufenplan beschloss am Dienstag indes die Thüringer Landesregierung. Ihn will Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) einerseits als Vorschlag für ein "bundesweit verlässliches Regelwerk" in die MPK einbringen. In der Diskussion darüber habe er "keine Geduld" mehr, sagte Ramelow. Andererseits betonte etwa Landeswirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), dass das mit "Thüringer Orientierungsrahmen" überschriebene Papier in dem Bundesland auch dann zur Anwendung kommen könnte, sollten Bund und Länder sich am Mittwoch nicht auf einen gemeinsamen Plan verständigen.

Mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von fast 135 weist Thüringen nach wie vor den höchsten Infektionswert aller Bundesländer auf, deswegen plädiert Ramelow zunächst auf eine Verlängerung des Lockdowns. Mit dem Fünf-Stufen-Plan, der dem Landtag vorgelegt worden ist und per Verordnung bereits ab dem 20. Februar in Kraft treten könnte, streben Rot-Rot-Grün und CDU ein grundsätzlich geregeltes Vorgehen je nach Infektionsgeschehen an. Dies kann bei steigenden Inzidenzen härtere Maßnahmen bedeuten. Es könnten unter strengen Infektionsschutzauflagen aber beispielsweise Friseure und Kosmetiker in Thüringen auch bei einer Sieben-Tage-Inzidenz zwischen 100 und 200 wieder öffnen.

Für Lockerungen ist es jetzt noch zu früh, das finden unisono auch Malu Dreyer, die SPD-Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, und ihre CDU-Kollegen Volker Bouffier (Hessen) und Tobias Hans (Saarland). Aber auch sie fragen: Wie soll es weitergehen bei sinkenden Infektionszahlen? Und auch sie haben Stufenpläne in den Schubladen. In Rheinland-Pfalz zum Beispiel den "Corona Warn- und Aktionsplan": Bei einem Inzidenzwert bis zu 20 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern binnen einer Woche ist "erhöhte Aufmerksamkeit" geboten, bei einer Inzidenz von 35 soll eine Taskforce ihre Arbeit aufnehmen, bei 50 beginnt die Phase der einschränkenden Allgemeinverfügungen.

Den Plan aus Mainz vom Sommer hat die Entwicklung hinweggefegt

Schon im Sommer wurde das entwickelt, es klang damals nach einem guten Plan - die Entwicklung hat ihn hinweggefegt, so auch den Plan in Hessen, der sechs Stufen aufweist: Ab einer Inzidenz von 200 sieht Hessen beispielsweise "zusätzliche Maßnahmen" bis hin zu Ausgangssperren vor.

Jetzt also bald, vielleicht, der zweite Anlauf. An diesem Dienstag stellte Malu Dreyer ihren neuen Stufenplan vor, der an den alten anknüpft. Zunächst sollen Schulen und Kindertagesstätten zumindest einen Wechselbetrieb aufnehmen, die Friseure und der Einzelhandel sollen folgen, dann kommt irgendwann auch die Kultur. Ähnliches hat Volker Bouffier Anfang Februar in seiner Regierungserklärung versprochen.

Noch aber gilt nirgendwo ein Stufenplan. "Wir arbeiten uns da ran", sagt Dreyer am Dienstag. Und ja, dass die Kultusministerkonferenz sich auf gemeinsame Richtlinien für Schulöffnungen geeinigt hat, sei ein guter Schritt. Überhaupt sind die Länderchefs vorsichtig geworden mit Versprechen. Wichtig seien verlässliche Signale, ab welcher Pandemielage etwa Gastwirtschaft oder Friseurläden wieder öffnen könnten, sagt Dreyer - wichtiger als ein vermeintlich genaues Datum, das man eventuell aber doch nicht halten könne.

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