Süddeutsche Zeitung

Bundestag:Lammert und Gysi kritisieren Stillstand im Parlament

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Ein halbes Jahr ohne reguläre Sitzungswoche: Union und SPD wollen den Bundestag erst wieder arbeitsfähig machen, wenn die neue Regierung steht. Oppositionschef Gysi gibt sich empört - und auch Parlamentspräsident Lammert will den Stillstand nicht länger hinnehmen.

Von Robert Roßmann, Berlin

Der 28. Juni 2013 ist kein schlechter Tag. Ein bisschen windig vielleicht, dafür hat es mehr als 20 Grad. Auf der Tagesordnung des Bundestags stehen 77 Punkte. Um kurz nach vier ruft Vizepräsident Wolfgang Thierse den letzten auf. Es geht um den Schutz syrischer Flüchtlinge. Dann verabschiedet Thierse die Abgeordneten mit dem Satz: "Ich wünsche Ihnen allen einen ruhigen und gesunden Sommer."

Man kann nicht sagen, dass der Wunsch Thierses unerfüllt geblieben wäre. Aus dem "ruhigen Sommer" ist eine ziemlich lange Ruhepause des Parlaments geworden. Denn an diesem 28. Juni endete die bisher letzte reguläre Sitzungswoche des Bundestags. Wenn es nach dem Willen der künftigen Koalitionäre geht, wird sich daran bis zum Jahreswechsel auch nichts mehr ändern.

Denn Union und SPD wollen den Bundestag erst nach der Regierungsbildung arbeitsfähig machen. Die Wiederwahl der Kanzlerin ist erst für den 17. Dezember geplant. Wegen der anschließenden Weihnachtspause dürfte es also Januar werden, bis das Parlament richtig loslegen kann. Einen Bundestag, der seinen Aufgaben ein halbes Jahr lang nicht nachkommen kann, hat es seit Ewigkeiten nicht gegeben. Das Parlament nennt sich auf seiner Homepage "Herz der Demokratie". Leider schlägt es in diesen Wochen aber nicht mehr. Union und SPD haben den Bundestag in ein künstliches Koma versetzt.

Um was geht es? Das neue Parlament hat sich im Oktober zwar konstituiert. Die Abgeordneten kamen kurz zusammen, um ein Präsidium zu wählen. Das war's dann aber auch. Die Abgeordneten haben keine Ausschüsse eingerichtet. Ohne diese Ausschüsse funktioniert der Bundestag aber nicht. Denn in den mehr als 20 Ausschüssen wird die eigentliche Arbeit erledigt, sie geben auch die Beschluss-Empfehlungen für das Plenum. Ohne Ausschüsse gibt es keine Gesetze.

Warum das alles? SPD und Union wollen abwarten, bis klar ist, wer welches Ministerium bekommt - und wie die Ressorts zugeschnitten sind. Erst dann sollen die Ausschüsse gebildet werden, um etwaig nötige Umbesetzungen zu vermeiden. Deutschland hat deshalb zwar 631 Abgeordnete - diese haben im Parlament bisher aber nichts zu tun.

Gysi: Bundestag als "Wurmfortsatz"

Für den künftigen Oppositionsführer Gregor Gysi ist das ein Unding. "Union und SPD machen den Bundestag zum Wurmfortsatz ihrer Koalitionsverhandlungen", sagt der Linken-Fraktionschef der Süddeutschen Zeitung. Die Wähler hätten "ein Recht darauf, dass ihre Volksvertretung arbeitet". Es sei "nicht hinnehmbar, wenn bis in den Januar keine Petition bearbeitet, kein Gesetz behandelt und die geschäftsführende Regierung nicht vom Parlament kontrolliert werden kann".

Auch Norbert Lammert ist mit dem Verhalten von Union und SPD unzufrieden. Der Bundestagspräsident drängt die Fraktionen, nach der formalen Konstituierung auch die politische Arbeitsfähigkeit des Parlaments herzustellen. Er will deshalb am Montag mit den parlamentarischen Geschäftsführern über eine Lösung beraten.

Lammert hat zwar Verständnis dafür, dass jetzt nicht gleich alle Ausschüsse eingerichtet werden. Auch er sieht den Aufwand, den Union und SPD durch die nötigen Umbesetzungen nach einer Regierungsbildung hätten. Das sei aber "kein Argument dafür, die qua Verfassung obligatorischen Ausschüsse nicht einzurichten", sagt der Parlamentspräsident der SZ. Diese müsse der Bundestag ja in jedem Fall bilden. "Das Bemühen, das alles bis zur Kanzlerwahl zu vertagen, halte ich weder für plausibel noch für notwendig", erklärt Lammert. Das Grundgesetz schreibt zum Beispiel die Bildung eines Europa-, eines Verteidigungs- und eines Petitionsausschusses vor. Auch das Parlamentarische Kontrollgremium für die Geheimdienste ist in der Verfassung verankert.

"Es ist überhaupt kein Problem, umgehend die im Grundgesetz verankerten und die für den Parlamentsbetrieb unabdingbaren Ausschüsse zu bilden, von den jeweiligen Ältesten leiten zu lassen und mit der Parlamentsarbeit zu beginnen", sagt auch Gysi. Der Bundestag sei "doch nicht als Notparlament gewählt, das bis zu einer Regierungsbildung höchstens zu ein oder zwei Sondersitzungen zusammenkommt, mit denen parlamentarisches Handeln eher vorgetäuscht wird".

Union und SPD ficht das nicht an. An diesem Montag soll es zwar eine Sitzung des Bundestags geben, die erste seit der Konstituierung. Doch auf der Tagesordnung stehen nur eine Regierungserklärung zum EU-Gipfel "Östliche Partnerschaft" und eine Debatte über die NSA-Affäre. Ein Beschluss ist nicht vorgesehen. Und die Bildung von Ausschüssen erst recht nicht.

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Quelle:
SZ vom 16.11.2013
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