Süddeutsche Zeitung

Berlinale 2021:Was für ein Zirkus

Lesezeit: 4 min

Filmfestivals können ziemlich bizarre Veranstaltungen sein. Aber ohne sie wäre das Kino erledigt - und Netflix gleich mit.

Von David Steinitz

Für den Preis einer Reise zur Berlinale könnte man stattdessen auch ungefähr zehn Jahre lang Netflix abonnieren. Zumindest bei den Zimmerraten, die schamlose Mittelklassehoteliers am Potsdamer Platz in normalen Festivalzeiten verlangen.

Wobei Berlin noch gar nichts ist im Vergleich zu Cannes. Für den Preis einer Reise zum Festival von Cannes könnte man ungefähr 30 Jahre lang Netflix bekommen. Und das auch nur, wenn die nette Madame Guyot einem das Appartement in der Rue d'Antibes, das aussieht wie der Drehort eines Siebzigerjahrepornos, wieder eine Nuance unter Ortsniveau vermittelt. Ansonsten käme man eher auf Kosten im Bereich von 40 Jahren Netflixabo.

Nun könnte man zum Start der Berlinale einwenden, dass diese Rechenspiele derzeit ziemlich egal sind, weil Filmfestivals mit ein paar Tausend Mutantenträgern aus aller Welt auf absehbare Zeit illusorisch sind. Auch die Berlinale findet zunächst in einer reinen Online-Version für die Branche statt, bevor es im Sommer noch einen echten Nachholtermin fürs Publikum geben soll.

Der größte Vorteil von Online-Festivals: Man kann deutlich einfacher aufs Klo

Die positive Lesart dieser Zwangsdigitalisierung ist, dass Online-Festivals unabhängig sind von Spielorten und Reisebudgets. Man kann die Filme daheim wegstreamen, teils über den Umweg einer Akkreditierung, teils einfach so. Man kann auch deutlich einfacher aufs Klo. Das ist nicht ganz unwichtig, wenn die Blase immer noch ein Trauma hat von jenem achtstündigen philippinischen Schwarzweißfilm, den die Berlinale 2016 ins Programm hievte.

Trotzdem muss man nach einem Jahr Corona, in dem viele bedeutende Festivaltermine ausgefallen sind, sagen: Ohne echte Festivals mit überteuerten Zimmern und viel zu langen Schwarzweißfilmen hat die Filmbranche ein Riesenproblem - und zwar nicht nur in Berlin, sondern auf der ganzen Welt.

Natürlich kann man sich leicht darüber lustig machen, was für obskure Filme manchmal zwischen den Highlights in die Wettbewerbe von Berlin, Cannes und Venedig gelangen. Und natürlich kann man sich auch noch mehr über das ganze elitäre Gegockel auf den roten Teppichen lustig machen. Tun ja auch alle. Denn das Schimpfen über Festivals ist zentraler Bestandteil jedes Festivals. Auch die Stars machen sich darüber lustig.

Roland Emmerich zum Beispiel erklärte mal bei einem Treffen, dass er es wirklich faszinierend fände, wie viele seiner Regiekolleginnen und -kollegen anscheinend das Bedürfnis verspürten, sehr lange Filme über schweigende chinesische Bauern zu inszenieren. Zur Berlinale, wo die Quote an Filmen über schweigende chinesische Bauern erfahrungsgemäß besonders hoch ist, ließ er sich trotzdem als Jurypräsident einladen.

Cannes hat ein Hofstaatsystem, bei dem Ludwig XIV. erblassen würde

Oder Lars von Trier, vor drei Jahren in Cannes. Er schimpfte beim Interview wie ein Rohrspatz über Festivals ("Fuck!") und ihre dämlichen Wettbewerbe ("Fuckfuckfuck!"). Diese Trotzhaltung hatte ihn wohl auch dazu gebracht, sich absichtlich fernab der schönen Menschen im Festivalpalast in eine finstere Villa am Stadtrand einzuquartieren, die aussah, als hätte dort schon der ein oder andere Serienmörder gewirkt.

Abends stand Trier natürlich trotzdem auf dem roten Teppich. Er machte seine Show für die Fotografen (Shorts statt Smoking, das ist in Cannes, als würde man gleich nackt kommen) und freute sich über jeden einzelnen Zuschauer, der entsetzt aus der Premiere seines Films floh, um twittern zu gehen. Bessere Werbung gibt es nicht.

Umgekehrt interessiert es natürlich keine Sau, ob jemand daheim seinen Stream abbricht, oder ob ein Filmemacher die Kleideretikette ignoriert. Die Anziehungskraft der Festivals speist sich aus diesen Spielchen mindestens so stark wie aus dem Erlebnis, einen Film von Martin Scorsese, Quentin Tarantino oder Greta Gerwig das erste Mal auf der Leinwand zu sehen. Aber nach einem Jahr des egalitären Streamingwahnsinns wissen wir: Dieser elitäre Zauber ist durch den Wechsel ins Netz leider weg.

Gut, man müsste es vielleicht nicht immer ganz so elitär treiben wie in Cannes, wo die Festivalmacher ihre Gäste mit diversen Akkreditierungsstufen in ein Hofstaatsystem zwängen, das selbst Ludwig XIV. hätte erblassen lassen. Ganz so schlimm ist es in Berlin nie gewesen, man kann als normaler Zuschauer Karten bekommen. Aber auch wenn sich die Berlinale gerne als Publikumsfestival geriert, das keine Klassen und Absperrungen kennt, hat natürlich auch sie sehr viele jener digital nicht imitierbaren elitären Orte, die ihr Glamour verschaffen. Und den braucht sie dringend, um ihren Status als eines der bedeutendsten Festivals der Welt zu behalten.

Nicht schon wieder Netflix: Das rote "N" löst längst nervöse Zuckungen aus

Der Kinobranche jedenfalls ist nach einem Jahr fast ohne richtige Festivals jegliche Struktur abhandengekommen. Berlin, Cannes, Venedig, ohne diese Kinojahreszeiten in ihrer ursprünglichen Form ist alles nur noch eine einzige deprimierende Streamingsuppe.

Gut für Netflix, könnte man meinen, und die Abozahlen der großen Streamingdienste steigen durch die Pandemie ja tatsächlich. Aber es passiert mit Spielfilmen gerade genau das, was den Serien schon längst passiert ist: Sie kommen über eine bestimmte Aufmerksamkeitsschwelle nur noch selten hinaus und verschwinden ganz unabhängig von ihrer Qualität oft blitzschnell in den Tiefen der Mediatheken.

Dieses Problem haben Netflix und Amazon schon vor der Pandemie kommen sehen. Sie bieten ihre Eigenproduktionen deshalb gerne den Festivals als Weltpremiere an, was oft auch einen Schub Richtung Oscars geben kann. So profitiert die schöne neue Streamingwelt vom Glamour der guten alten Kinowelt, und umgekehrt. Wenn das Kino sich aber wegen des Virus komplett ins Streaming flüchten muss, haben beide Seiten ein Glamourproblem.

Außerdem bekommt man nach diesen zwölf irren Monaten auf der Couch ja schon nervöse Zuckungen, wenn abends wieder das rote Netflix-Logo aufleuchtet. Es wäre nach dem Coronajahr zumindest nicht verwunderlich, wenn die Netflix-Erkennungsmelodie ("Da-Dumm!") sehr bald Eingang in die psychiatrische Fachliteratur fände - als Trigger, der endgültig den Lockdown-Wahnsinn auslöst.

Klar hat es auf der Berlinale immer minus zehn Grad, und klar sind alle erkältet, und klar ist der Potsdamer Platz der hässlichste Gentrifizierungsunfall in der Geschichte des Städtebaus. Es macht sich auch die ganze Welt darüber lustig, dass nur die masochistischen Deutschen auf die Idee kommen können, im Berliner Februar ein Filmfestival zu veranstalten. Aber wie sehr sehnt man sich jetzt nach einer echten Berlinale mit Kino, rotem Teppich und Schnupfen.

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