Süddeutsche Zeitung

Sieben Kurven der Formel 1:Die wilde Maus von Zandvoort

Lesezeit: 7 min

Sieger Max Verstappen ist ganz verliebt, Lewis Hamilton jammert, fährt aber trotzdem schnell - und Mick Schumacher hat Zoff. Die Höhepunkte des Formel-1-Wochenendes.

Von Philipp Schneider, Zandvoort

Max Verstappen

Als er den Pokal in den Händen hielt, fand ihn Max Verstappen offenbar doch ganz hübsch. So verliebt, wie er ihn anschaute. "Ich finde ihn ein bisschen hässlich", hatte er wenige Tage vorher noch gesagt. Das mache aber nichts, er sei ja hier für den Sieg, nicht für den Pokal. Die Trophäe, die in Zandvoort verliehen wurde, sieht ein bisschen aus wie der Heilige Gral in dem Film "Indiana Jones und der letzte Kreuzzug".

Das Glas des Pokals besteht aus wiederverwerteten Heineken-Flaschen, eingeschmolzen und dann mundgeblasen in Leerdam. Der Sockel wurde aus dem Plastik von alten Bierkisten gefertigt. Und die Holzbox aus recyceltem Sperrholz gebaut. Der Name des Siegers wird mit Sand eingraviert, logo, weil doch die Dünen gleich nebenan sind. Vielleicht wird Verstappen den ein bisschen hässlichen Pokal irgendwann mal wertschätzen als denjenigen, den er erhielt, als er die entscheidende Wende im Rennen um seine erste Weltmeisterschaft vollzog.

Lewis Hamilton

Lewis Hamilton fuhr ein paar Runden zu früh zum zweiten Mal an die Box. Er hatte Pech, dass er nach seinem Besuch in der Garage noch in dichten Verkehr geriet. Und sie hatten bei Mercedes nicht damit gerechnet, dass Red Bull beim anschließenden Stopp von Max Verstappen den harten Reifen aus dem Regal nahm, mit dem er ins Ziel fahren konnte. Das waren aus Sicht des Teams die Hauptgründe, weswegen es Hamilton nicht gelang, den Niederländer noch einzuholen. Ein bisschen neidisch war der Brite darauf, dass die zu Überrundenden am Sonntag allesamt brav zur Seite fuhren, als sich Verstappen von hinten näherte. "Ich werde ihn von jetzt an Noah nennen", scherzte Hamilton. Aber er dachte da wohl eher an Mose, der das Rote Meer teilte. Nicht an den Großmeister der Antizipation, der paarweise Tiere sammelte auf seiner Arche.

Während es Rennens jammerte Hamilton rundenlang über seine Reifen, dass den Zuhörer die Sorge befiel, er rolle schon sehr bald auf Radkappen durch Zandvoort. Tatsächlich bauten die Gummis unter seinem Silberpfeil zunehmen ab, bei dem Versuch, auf der mittelharten Mischung noch Verstappen einzuholen, der sich mit der härtesten auf der Flucht ins Ziel befand. Aber Hamilton drehte während des Wehklagens trotzdem einige schnellste Runden nacheinander. Das bietet Angriffsfläche. "Hamilton neigt ein wenig zum Theatralischen", sagte Red Bulls Motorsportberater Helmut Marko nach dem Rennen.

Und bei Red Bull kennen sie sich mit Ausflügen ins Dramaturgische spätestens seit Verstappens Unfall in Silverstone ganz gut aus. Nachdem ihn Hamilton von der Strecke befördert hatte, nutzte der österreichische Rennstall das Krankenhaus, in dem sich der Niederländer zur Untersuchung befand, als Bühne, um eine härtere Strafe für Hamilton zu fordern. Dieser jedenfalls gab nach dem Grand Prix in den Niederlanden zu, dass seine Reifen an diesem Wochenende in Wahrheit ziemlich gut waren: "Ich konnte das ganze Rennen Vollgas fahren und es gab kein Reifenmanagement."

Die Niederländer

In den Niederlanden lässt sich erleben, wie moderne Verkehrsplanung aussieht. Auf den Straßen, die zur Rennstrecke führen, sind die Fahrradwege an vielen Stellen auf beiden Seiten so breit, dass zwischen ihnen keine zwei Autos nebeneinander passen, ohne dabei auf die rote Spur auszuweichen. Die Fahrräder haben damit immer Vorfahrt. Das bremst vor allem in Wohnvierteln den Verkehrsfluss massiv. Als dann am Sonntag im Laufe des Vormittags 75 000 Niederländer zur Strecke reisten, verstopften sie die Zufahrtsstraßen nicht.

Mit dem Auto reisten nur zwei Prozent aller Zuschauer an, wie die Veranstalter mitteilten. Alle anderen kamen mit dem Zug - oder mit Fahrrädern, von denen zig tausend auf einem zentralen Parkplatz abgestellt wurden, der größer war als der angrenzende Zeltplatz. Auch die Stimmung auf den Tribünen begeisterte die Fahrer und Teamchefs. Die sei ähnlich wie bei seinem Heimrennen in Silverstone, sagte Hamilton. Allerdings stünden in Zandvoort die Tribünen viel näher an der Strecke, wohingegen die Zuschauer in England Ferngläser benötigten.

Kimi Räikkönen

Natürlich war jene Meldung, die Samstagfrüh durch das Fahrerlager schwappte nicht ohne bitterböse Ironie. Kimi Räikkönen, der Rekordfahrer der Formel 1, wurde wenige Tage, nachdem er seinen Rücktritt aus der Formel 1 zum Saisonende verkündet hatte, positiv auf das Coronavirus getestet. Da übersteht ein harter Hund aus dem Süden Finnlands 342 Rennen weitestgehend unbeschadet, wird Weltmeister, bringt 21 Siege und 18 Pole Positions zustande, und wird dann drei Monate vor dem Karriereende doch noch ausgebremst von einem unsichtbaren Quälgeist.

Räikkönen zeige keinerlei Symptome, schrieb sein Team Alfa Romeo. Er sei zwar in Quarantäne, dabei allerdings in "good spirits", in guter Verfassung. Auf die guten Geister hatte sich der 42-Jährige in seiner Karriere stets verlassen können. Vielleicht hatte er sie diesmal sogar herbeigeführt, als er am Vorabend mit Williams-Chef Jost Capito fröhlich dinierte. Das kam heraus, weil sich Capito ebenfalls vorübergehend in Quarantäne begeben musste. Robert Kubica bestieg Räikkönens Auto, Alfa Romeos Ersatzfahrer, der ein komplettes Renn-Wochenende zuletzt beim Saisonfinale 2019 erlebt hatte.

Obwohl er wegen eines früheren Rennunfalls quasi nur mit einer Hand lenken kann, war er schon in der Qualifikation schneller als die zwei Haas-Piloten. Im Rennen wurde er 15. - beachtlich. Sein Einsatz sei sehr kurzfristig angeordnet worden. Als er die Nachricht erhielt, habe er zuerst verstanden, er sei derjenige, der positiv getestet wurde. Aber er vertraue zum Glück auf Fähigkeiten, "die man in keinem Buch lesen kann", sagte Kubica.

Die Rennstrecke

Die zwei Steilkurven, die sie in Zandvoort anlässlich der Rückkehr der Formel 1 nach 36 Jahren in die Dünen gesetzt haben, sind der heimliche Star des Rennwochenendes gewesen. Die Piloten haben eine Weile gebraucht, ehe sie herausgefunden hatten, dass Biege drei, die Hugenholzbocht, am besten mit viel Mut und Geschwindigkeit im oberen Teil zu befahren ist. Und es war wohl nicht zufällig der zweimalige Weltmeister Fernando Alonso, 40, der die Ideallinie in den freien Trainings als Erster mit seinen Reifen ertastete.

In seinem zweijährigen Sabbatical von der Formel 1 hatte er in den USA die berühmten Steilkurven in Indianapolis befahren. Die sind zwar nur halb so steil wie die nagelneuen an der Nordsee, aber das Prinzip ist das gleiche. Auch die übrigen Passagen der Rennstrecke stoßen bei den Fahrern auf viel Zuneigung. Der Asphalt windet sich durch die Dünen wie die Schienen der wilden Maus auf dem Jahrmarkt. Es geht bergauf, bergab, und fast nirgendwo darf man sich einen Fehler erlauben, weil es keine asphaltierten Auslaufzonen gibt.

Für Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff ist Zandvoort die Blaupause: "Das ist eine richtige Rennstrecke. Du musst dich langsam herantasten, weil Fehler so bestraft werden, wie es sein muss. Und wenn du die Onboards anschaust, dann machst du dir in die Hose!" Wenn allerdings niemand einen Fehler begeht, dann ist es fast nirgends so überschaubar spannend wie in Zandvoort. Am Sonntag war nur die Onboard von Mick Schumacher furchterregend, als ihn Nikita Masepin abdrängelte.

Mick Schumacher

"Wie langweilig wäre denn Friede, Freude, Eierkuchen?", hat Mick Schumachers Teamchef Günther Steiner vor dem Saisonstart im SZ-Interview gefragt. Was soll man sagen? So wenig Eierkuchen wie nach diesem Rennwochenende in Zandvoort gab es noch nie, seit bei Haas die Garagen der Jungfahrer Schumacher und Nikita Masepin aneinandergrenzen. Am Samstag in der Qualifikation haben sie mit ihrem Zoff erstmals auch die Gesundheit anderer Piloten gefährdet. Sebastian Vettel kam bei der Zeitenjagd mit hohem Tempo angerauscht, als sich Schumacher und Masepin mal wieder ein Elefantenrennen um den vorletzten Platz lieferten. Sie fuhren Seite an Seite, blockierten die Bahn, Vettel musste hart bremsen. "Ich mag es nicht, wenn jemand dreist ist, obwohl es nur um den 19. Platz geht. Das zeigt dessen wahres Gesicht, und das toleriere ich nicht", klagte Masepin darauf. Er fühlte sich von Schumacher betrogen, weil es zuvor teamintern die Abmachung gegeben hatte, er chauffiere heute "das erste Auto im Team".

Schumacher wiederum hatte Masepin trotzdem überholt, weil er zum Aufwärmen seiner Reifen mehr Geschwindigkeit aufnehmen wollte, und konnte danach argumentieren, dass er von seinem Team die Erlaubnis erhalten hatte, in Kurve drei vorbeizufahren. Schumacher entschuldigte sich nach dem Vorfall bei Vettel. Und Vettel verhinderte eine Bestrafung der Piloten, indem er vor den Rennkommissaren aussagte, es hätten an der Stelle ohnehin zu viele Autos die Strecke blockiert. Steiner wollte keinem seiner Fahrer die Schuld geben. Er erteilte nicht einmal Masepin dafür eine Rüge, dass der den Zank in die Öffentlichkeit getragen hatte. Am Sonntag dann setzten sie ihre Fehde fort, Masepin drängte Schumacher in Richtung Bande und demolierte dessen Frontflügel. Friede, Freude, Eierkuchen müssen gar nicht sein. Aber helfen würden bei Haas: Absprachen, Absprachen, Ansagen.

Valtteri Bottas

Nanu, was war das? Eine kleine Rebellion? Ein Gag? Nur ein Versehen? Oder war in Wahrheit doch alles exakt so geplant? Es gibt eine Reihe von Interpretationen, wie es dazu kam, dass Valtteri Bottas kurz vor Schluss seinem Teamkollegen Hamilton die schnellste Rennrunde wegschnappte. Der siebenmalige Weltmeister, der den Extrapunkt im Titelkampf mit Verstappen womöglich eines Tages noch gut gebrauchen kann, holte sie sich danach wieder zurück. Gerade so, im letzten Versuch. Fakt ist: Bottas' Abschied von Mercedes zum Saisonende steht fest. Am Montag wurde offiziell bekannt gegeben, dass er in der kommenden Saison zu Alfa Romeo wechselt und einen Vertrag über mehrere Jahre unterzeichnet hat. Er hat sich deshalb also womöglich schon wie ein freier Mann gefühlt.

Andererseits führte sich Bottas nach dem Rennen nicht auf wie ein Outlaw, der gedanklich durch die Wälder Finnlands streift und dem egal ist, wie es bei bei Mercedes läuft. "Lewis braucht diesen Punkt mehr als ich. Er kämpft um die Fahrer-WM, und als Team brauchen wir dafür maximale Punkte. So ist es halt", sagte Bottas. Und: "Ich wusste, dass Lewis auch noch stoppen würde. Darum bin ich im letzten Sektor vom Gas. Alles kein Drama." Teamchef Toto Wolff interpretierte Bottas versehentliche schnelle Fahrt als "ein bisschen keck". Er habe halt zeigen wollen, "dass er die Pace hatte". Es sei nicht geplant gewesen, dass Bottas auf die schnellste Runde geht. "Aber dann hast du halt den Instinkt des Fahrers, der da manchmal durchschlägt." Man darf es auch so sehen: Weil alle über Bottas schnellste Runde redeten, diskutierte kaum jemand darüber, warum er Hamilton nicht länger aufgehalten hatte, als er als Bremsklotz benötigt wurde.

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