Süddeutsche Zeitung

Champions League:"Wir sind aufgefressen worden"

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Nach dem desaströsen 0:7 bei Manchester City staunt RB Leipzig über die Gnadenlosigkeit des fünfmaligen Torschützen Erling Haaland. Der Norweger arbeitet schon im Alter von 22 Jahren an Rekorden für die Ewigkeit.

Von Javier Cáceres, Manchester

Der Sieg hatte Spuren hinterlassen, und jeder in der Mixed Zone durfte es sehen. Denn genau dorthin wurde Erling Braut Haaland - die Füße in Badeschlappen, den Oberkörper in einer Daunenjacke versteckt - für ein paar Minuten geschickt. Wie zum Beweis, dass Haaland tatsächlich ein Mensch aus Fleisch und Blut ist und kein Android. Daran konnte man an diesem Abend ein paar Zweifel haben, weil Haaland nicht nur eine ganze Partie und die Schlagzeilen eines 7:0- Champions-League-Sieges an sich riss. Sondern weil er seinen Namen mit fünf Toren binnen 35 Minuten in diverse Rekordlisten eingetragen hatte.

Da stand er also in den Katakomben des Stadions von Manchester City und hatte eine kleine Schramme am Knie. Kaum größer als der Nagel eines Daumens, aber: Rot. Blutrot. In nicht zu leugnender Weise menschlich. Erling Haaland hatte sich beim Jubeln verletzt, als er vor Freude über den Rasen geschlittert war. Ein ums andere Mal. Immer wieder. Unerbittlich. "Ich liebe diesen Wettbewerb, ich bin sehr stolz, Champions League zu spielen", sagte der Norweger.

Die Rekorde? Ach ja: Fünf Tore in einem Champions-League-Spiel, das war vor Haalands Gala gegen RB Leipzig nur einem gewissen Lionel Messi gelungen, als er noch beim FC Barcelona spielte (gegen Bayer Leverkusen, 2012), und dem vielleicht zu Unrecht vergessenen Brasilianer Luiz Adriano, als er 2014 noch bei Schachtar Donezk gegen Bate Borissow spielte. Beide allerdings benötigten für ihre Fünferpacks deutlich mehr als 35 Minuten.

Rekorde, Rekorde, Rekorde: Haaland ist 22 Jahre alt - doch er wird bereits an Rang 23 der besten Königsklassen-Schützen geführt. Am Dienstag überholte er, weil er nun 33 Tore in 25 Spielen des wichtigsten Klubwettbewerbs der Welt erzielt hat, auf einen Streich Größen wie Arjen Robben (31 Tore/110 Spiele), Samuel Eto'o (30/78), Antoine Griezmann (30/85), Kakà (30/86), Paco Gento (30/89), Roy Makaay (29/71) oder Jean-Pierre Papin (28/37). Um mal nur einige zu nennen.

Noch mehr Rekorde gefällig? Seit er im Sommer zu City stieß, hat Haaland bereits 39 Treffer erzielt, womit er den bisherigen Rekordhalter der City-Geschichte, Tommy Johnson selig, übertroffen hat: Der war in der Saison 1928/29 auf 38 Tore gekommen. Und: Haaland ist der jüngste Spieler, der die 30-Tore-Marke in der Champions League übertroffen hat - Kylian Mbappé von Paris Saint-Germain ist, weil er seinerzeit 116 Tage älter war als Haaland am Dienstag, hier nur noch die Nummer zwei. Und das Beste war: Es hätten gegen Leipzig sogar noch mehr Tore sein können.

Guardiola wechselt Haaland aus - und rechtfertigt sich damit, dass er ihn noch hungern lassen möchte

Erstens, weil Haaland noch ein paar weitere gute Chancen liegenließ. Er hatte an diesem Abend "das Gesetz der Anziehung auf seiner Seite", wie RB-Kapitän Willi Orban klagend anmerkte: "Der war immer da, wo der Ball abgefallen ist." So erzielte Haaland im Zweifelsfall schnöde Tore, an die er sich später selbst nicht mehr erinnern konnte. Die restlichen City-Treffer von Ilkay Gündogan (48. ) und erst recht von Kevin De Bruyne (90.+2) waren zweifellos schöner und spektakulärer als die fünf von Abstauberkönig Haaland.

Zweitens hätten fünf Treffer für ihn nicht das Ende der Fahnenstange sein müssen, weil Trainer Pep Guardiola Haaland nach 63 Minuten vom Platz nahm, was nicht überall Verständnis hervorrief. Zu offensichtlich war, dass in diesem Spiel irgendeine kosmische Konstellation Haaland begünstigte. Auch Haaland selbst war das bewusst, und er teilte das seinem Coach auch mit, als er ausgewechselt wurde: "Ich habe zu ihm gesagt, dass ich gern auch einen Hattrick in der zweiten Halbzeit erzielt hätte", berichtete Haaland, der in der Tat einen Hattrick aus Halbzeit eins und den Spielball als Andenken mitnahm. Den 3:0-Zwischenstand hatte er im Alleingang hergestellt.

Guardiola rechtfertigte sich damit, dass er einen epochalen Fußballer noch hungern lassen wolle, als würde durch seine eigenen Traineradern nicht auch Unersättlichkeit fließen: "Wenn er diesen Meilenstein mit 22 Jahren erreicht hätte, würde sein Leben langweilig werden", sagte Guardiola zum verhinderten Doppel-Hattrick, "nun hat er das Ziel, es in Zukunft zu erreichen." Und es ließ sich am Dienstag kaum daran zweifeln, dass Haaland auch das schaffen wird. Leipzigs Trainer Marco Rose erinnerte lediglich an seine Äußerungen vom Vortag, als er sein Unverständnis darüber geäußert hatte, dass in England kritisch über Haaland debattiert werde. Dann "schickt ihn zu mir!", hatte Rose gesagt, was unfreiwillig ironisch war: Haaland gehörte einst Salzburg, er war dort schon mal beim Trainer Rose.

Und sonst? Es ehrte Rose und den Rest der Leipziger Delegation, dass sie nach der höchsten Niederlage der jungen RB-Klubgeschichte auf ein, zwei Begebenheiten der Partie kaum eingingen: auf absolut indiskutable Entscheidungen des Schiedsrichters und Videoreferees, über die sie nur leise flüsternd klagten. "Wir waren heute chancenlos", man habe "richtig einen auf den Sack bekommen" und sei "nicht auf der Höhe" gewesen, so lautete die zutreffende Bilanz von Sportgeschäftsführer Max Eberl (und anderer Leipziger). Subtext: Da brauchen wir nicht über den Schiri zu reden! Dann erklärte Eberl aber doch, dass vor allem das umstrittene 1:0 von Haaland - ein von Verteidiger Benjamin Henrichs verursachter angeblicher Handelfmeter - "ein Stück weit der Startschuss zu dem war, was passiert ist".

Ja, nach einem 0:7 lässt sich schlecht rumstänkern. Aber der Elfmeter gemahnte in der Tat an die Debatten der vergangenen Tage und eine ungeheuerliche Drift des Fußballs. "Es wusste keiner: Warum? Weshalb? Wieso?", sagte Eberl - warum also Schiedsrichter Slavko Vincic aus Slowenien vom seinen Videoassistenten an den TV-Screen beordert worden war.

"Der Schiedsrichter meinte, er hat es auch nicht wirklich gesehen", sagt Henrichs

Nach einer Flanke war der RB-Verteidiger Henrichs rücklings, ohne jede Sicht auf den Ball und ohne jede Absicht, angeköpfelt worden. "Für mich war das kein Handelfmeter, der Ball verändert seine Flugkurve gar nicht, da darf der Schiedsrichter gar nicht in die Not gebracht werden, darüber zu entschieden", monierte Eberl. "Der Schiedsrichter meinte, er hat es auch nicht wirklich gesehen, aber ihm wurde es gesagt", berichtete Henrichs, "wenn der Schiri dann durch den Videobeweis entscheidet und auf dem Platz keine Macht mehr hat ... So ist der Fußball halt geworden." Der zweite Aufreger war ein Foul von City-Torwart Éderson an Konrad Laimer, das fast als Notbremse hätte durchgehen können: Der Schiedsrichter pfiff auch Foul - aber an Éderson, der VAR griff nicht ein. Dass zudem vor dem 2:0 Haaland den RB-Torwart Blaswich tendenziell irregulär bedrängt hatte, versendete sich an diesem Abend.

Denn Henrichs sah es so wie alle Leipziger: Nach dieser Leistung verbat es sich, über Fehlentscheidungen zu sprechen: "Wir sind aufgefressen worden", sagte er, ohne den Schlund zu erwähnen, in dem Leipzig verschwand: den Schlund des schaurig-faszinierend-perfekten Erling Braut Haaland.

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