Süddeutsche Zeitung

Westbalkan-Strategie der EU:"In Armut kann keine Demokratie gedeihen"

Lesezeit: 4 min

Schon 2025 könnten Serbien und Montenegro der EU beitreten. Warum es für diese Länder ums Überleben geht - und die EU wieder größer werden sollte, erklärt Balkan-Experte Dušan Reljić.

Interview von Leila Al-Serori

Die EU-Kommission will an diesem Dienstag erklären, wie sie sich den weiteren Weg für die Westbalkanstaaten, insbesondere Serbien und Montenegro, bis zu einem möglichen EU-Beitritt vorstellt. Dušan Reljić, Balkan-Experte und Brüssel-Büroleiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, erklärt, was sich die Region von einem Beitritt erhofft und was für die Europäische Union dort auf dem Spiel steht.

SZ: Schon 2025 könnten Serbien und Montenegro der EU beitreten. Kritiker sagen, die Westbalkanstaaten seien nicht so weit, und beklagen die grassierende Korruption und fehlende Rechtsstaatlichkeit.

Dušan Reljić: Der Balkan ist korrupt: Das heißt es seit 150 Jahren. Dabei kann Korruption überall entstehen, wo der Staat allzu unkontrolliert verteilen kann. Daran leiden also nicht nur südosteuropäische Länder. Die anderen Probleme sind die mangelnde Rechtsstaatlichkeit und zurückgehende Pressefreiheit in Serbien und Montenegro. Dort haben sich Regime gefestigt, die ein Janusgesicht haben: Dem Westen und der EU erzählen sie, was die Regierungen dort hören wollen. Sie inszenieren sich als Träger der Stabilität. Doch im eigenen Land herrscht wenig Sinn für Demokratie. Medien können nicht frei berichten, die Vergabe von Bauaufträgen staatlicher Stellen ist intransparent.

Das klingt nach vielen Baustellen. Warum ist die Region trotzdem so wichtig für die EU?

Nirgendwo sonst hat die Union so viel an politischem Kapital investiert. Nach dem Zerfall Jugoslawiens ab 1990 hat man sich um Einfluss bemüht, um Frieden in der Region zu gewährleisten. Dass dort Stabilität herrscht, ist für den ganzen Kontinent wichtig. Außerdem lebt ein Viertel der Bevölkerung der Region in der EU. Und die Union will zeigen, dass sie trotz Brexit ein starker Player ist. Schließlich kämpfen ja auch Russland, China und islamische Staaten um Einfluss in der Region.

Wenn die EU größer wird, birgt das aber Gefahren: beispielsweise, dass nicht in allen Mitgliedsstaaten gleiche Voraussetzungen herrschen. So heißt es heute auch, Bulgarien und Rumänien seien zu früh beigetreten.

Das ist Schnee von gestern. Rumänien kann auf eine ordentliche wirtschaftliche Entwicklung verweisen, Bulgarien hat eine sehr geringe Auslandsverschuldung. Diese Länder können nicht auf einmal Riesensprünge machen. Aber sie haben auch in keiner Weise die Sicherheit der Europäischen Union beeinträchtigt, noch haben sie zu einer Verarmung geführt. Die EU ist kein Schönwetter-Verein, im Gegenteil: Sie ist gegründet worden, um für Sicherheit und Fortschritt auf dem gesamten Kontinent zu sorgen. Wenn man diese Prinzipien nicht mehr lebt, dann glaubt man nicht mehr an das europäische Projekt. Und das destabilisiert Europa und führt zur Bildung neuer Krisenherde.

Aber ist die EU tatsächlich bereit für eine erneute Vergrößerung?

Bei früheren Beitritten wurde diese Frage gar nicht gestellt. Es gab einfach ein strategisches Interesse: Spanien, Portugal und Griechenland sind früh aufgenommen worden, um zu verhindern, dass sie wieder in Diktaturen zurückfallen. Bei der Aufnahme der östlichen Mitgliedsstaaten ging es darum, nach dem Zerfall der Sowjetunion schnell geopolitische Tatsachen zu schaffen. Auch bei den Westbalkanstaaten steht der Sicherheitsaspekt im Vordergrund. Die Union will für Frieden auf dem Kontinent sorgen. Und der Westbalkan ist schon immer Prüfstein für die EU, ob sie durch ihr Wirken ärmere Staaten transformieren kann.

Kann sie?

Bisher hat das Engagement nicht das gebracht, was man sich gewünscht hat. Die Westbalkanstaaten sind heute sozioökonomisch nicht sehr weit - die Menschen kämpfen nach wie vor mit großer Armut. Und das obwohl bereits 85 Prozent des Handels mit der EU geführt werden und die meisten Direktinvestitionen aus den EU-Staaten kommen. Auch das Bankensystem ist heute fest in Händen der westeuropäischen Staaten. Hier sind die Westbalkanstaaten also schon fast wie EU-Mitgliedsstaaten. Aber eben nur fast: Sie haben kein Mitspracherecht und keinen Zugang zu den Fördertöpfen. Das führt zu einem großen Handelsdefizit. Zwischen 2005 und 2016 erreichte dieses Defizit 97 Milliarden Euro. Diese keinesfalls geringe Summe wurde also aus dem Bruttosozialprodukt dieser Länder in die EU transferiert, vor allem nach Deutschland und Italien. Die Westbalkanstaaten müssen Kredite aufnehmen, um das auszugleichen. Es ist kein Zufall, dass sie mit Bergen an Auslandsschulden zu kämpfen haben.

Die EU will nun eine Beitrittstrategie für die Westbalkanstaaten vorstellen. Was müsste sich ändern?

Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung muss beschleunigt werden. In Armut kann keine Demokratie gedeihen, keine Rechtsstaatlichkeit. Wobei der EU-Beitritt alleine ja nicht darüber entscheidet, ob die Presse tatsächlich frei ist, siehe Ungarn. Aber es müssen Strukturen geschaffen werden, die den Machtmissbrauch des Staates verhindern können. In Ländern, wo es wenig zu verteilen gibt und wo der Staat an vielen Schaltstellen sitzt, hat eine unabhängige Gesellschaft ganz einfach keine wirtschaftliche Grundlage.

Ein großes Problem ist auch, dass die Mittelschicht auswandert.

Ja, man muss den Exodus der Bevölkerung unterbinden - und das geht nur, wenn man zu Hause Perspektiven schafft. Für den Westbalkan geht es dabei ums wirtschaftliche Überleben.

Bisher haben diese Länder nur Wettbewerbsvorteile, wenn sie billige Arbeitskräfte anbieten. In Serbien bekommen Industriearbeiter vielleicht 400 Euro monatlich. Sollten die Arbeitskräfte teurer werden, könnten westliche Investoren weiterziehen. Deshalb gibt es hauptsächlich Stellen im Niedriglohnsektor, wo keine großen Qualifikationen gefordert sind - und die gebildete Mittelschicht wandert aus.

Hier würde aber auch ein EU-Beitritt nicht automatisch helfen.

Aber es gäbe Strukturfonds, mehr Möglichkeiten sich frei zu bewegen und Wissen anzueignen. Das würde die dortigen Gesellschaften stärken. Rumänien, Ungarn, Polen und Tschechien waren in einer ähnlichen Situation und haben vom Beitritt klar profitiert. Die Gesellschaft wurde durch die Teilhabe an europäischen Programmen und Werten zukunftsfähig gemacht.

Schon jetzt wirkt die EU durch Flüchtlingskrise und Brexit sehr mitgenommen, nationalistische Parteien gewinnen an Rückhalt in der Bevölkerung. Ist die EU noch dieses Friedensprojekt, das sie einmal sein wollte?

Es gibt kein anderes. Die Ergebnisse sind ja in vielen Bereichen sehr positiv, zum Beispiel bei Förderungen in der Wissenschaft, im Bereich des Handels. Und Europa würde sich nie gegenüber den USA behaupten können, wenn es nicht als Staatenbund auftreten würde.

Dennoch gibt es verschiedene Positionen in der EU, Kommissionschef Jean-Claude Juncker will den Euro beispielsweise überall einführen, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hingegen vertritt ein Europa der zwei Geschwindigkeiten und plädiert für ein Kerneuropa. In welche Richtung wird es gehen?

Ich wage zu bezweifeln, dass man in Europa einen Fünfjahresplan entwickeln kann. Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass die Bundesrepublik bald sechs Monate oder mehr brauchen wird, um eine neue Regierung zu bekommen? Und Juncker ist schon nächstes Jahr nicht mehr Chef der Kommission, da kann sich also einiges in der strategischen Ausrichtung ändern.

Klar ist aber, dass Europa immer mit verschiedenen Geschwindigkeiten leben wird, schließlich sind die Staaten unterschiedlich. Europa wird nie ein Nationalstaat.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3854396
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.