Süddeutsche Zeitung

Landtagswahl in Berlin:Stimmabgabe zur Tagesschau

Lesezeit: 4 min

Die Hauptstadt bleibt SPD-geführt: Franziska Giffey hat die Grüne Bettina Jarasch knapp überholt. Das Land muss nun auch das Chaos am Wahltag aufarbeiten.

Von Jan Heidtmann und Verena Mayer, Berlin

Sich über Berlin lustig zu machen, weil es dort lange keinen Flughafen, dafür sehr viele Schulden gab, ist schon lange ein Volkssport in ganz Deutschland. Das liegt auch daran, dass Berlin immer wieder gute Vorlagen liefert. Am Wahlsonntag zum Beispiel. Da mehrten sich seit dem frühen Nachmittag die Wahllokale, denen die Stimmzettel ausgingen. Wahlzettel fehlten oder sie waren innerhalb von Bezirken vertauscht worden, und die Kuriere, die welche nachliefern sollten, steckten im Verkehr fest, weil gleichzeitig auf den Straßen der Hauptstadt der Berlin-Marathon stattfand.

Berlin wäre allerdings nicht Berlin, wenn es im Moment des Ausnahmezustands nicht immer auch Improvisationstalent beweisen würde. Wahlvorsteher zogen zu Fuß los, um Stimmzettel zu holen, oder gingen in andere Wahllokale, um welche "zu schnorren", wie einer dem Tagesspiegel erzählte. Ein Wahlhelfer vervielfältigte Zettel am Kopierer, ein anderer soll Wartenden angeboten haben, sofort wählen zu können, wenn sie auf ihre Zweitstimme fürs Abgeordnetenhaus verzichten würden, die Zettel dafür seien gerade aus.

Vor allem standen die Menschen bis weit nach den ersten Hochrechnungen Schlange, um zu wählen. Das war möglich, weil laut Berliner Landeswahlleitung alle ihre Stimme abgeben durften, die bis 18 Uhr vor ihrem Wahllokal standen. Weshalb mancherorts kurz vor Beginn der Tagesschau Bierflaschen geöffnet wurden und Leute in Partystimmung noch immer darauf warteten, endlich die sechs Zettel auszufüllen. Neben Bundestag und dem Abgeordnetenhaus war auch die Bezirksverordnetenversammlung zu wählen und über den Volksentscheid zur Enteignung großer Immobilienunternehmen abzustimmen.

Die Frage ist nur, wie legal das alles ist. Am Montag äußerte sich dazu die Landeswahlleiterin Berlins, Petra Michaelis. Sie halte es für "einen relevanten Fehler", wenn Menschen ihre Wahl nicht wahrnehmen konnten, und werde Hinweise darauf sorgfältig prüfen. Grundsätzlich kann eine Wahl angefochten werden, wenn es Fehler am Wahltag gab und diese die Wahlentscheidung beeinflussten. Darüber muss am Ende der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin entscheiden. Wie es zu dem Chaos kam, kann sich Michaelis nicht erklären. Alle Wahllokale seien mit einer "Grundausstattung von Wahlzetteln" versorgt worden, und es sei geplant gewesen, dass bei Bedarf im Laufe des Tages nachgeliefert werde. Insgesamt habe es wesentlich mehr Stimmzettel als Wahlberechtigte gegeben.

Hat die Wahl Bestand, liegt es nun an Franziska Giffey eine Regierung zusammenzustellen. Das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen SPD und Grünen konnten die Sozialdemokraten in der Nacht zum Montag klar für sich entscheiden. Doch beide Parteien liegen nahe genug beieinander, dass Giffey am Morgen im Rundfunkinterview wiederholte, was sie schon am Wahlabend betont hatte: "Es gibt einen großen Teil der Bevölkerung, die der SPD ihre Stimme gegeben haben, aber eben auch den Grünen." Das klang fast so, als wolle sie ihrer Gegenspielerin von den Grünen, Bettina Jarasch, auf Augenhöhe begegnen.

Eine Fortsetzung von Rot-Rot-Grün ist möglich

Vorerst kündigte Giffey jedoch an, mit allen im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien außer der AfD Gespräche führen zu wollen. "Wir wollen gerne so viel SPD-Programm wie möglich hinbekommen in den Koalitionsverhandlungen", sagte sie. "Es geht jetzt darum, in den Sondierungen auszuloten, wie das gehen kann." Den Anfang sollen Treffen mit den derzeitigen Koalitionspartnern machen, den Linken und den Grünen.

Den Zahlen nach sind verschiedene Dreierkoalitionen denkbar, darunter die sogenannte Deutschlandkoalition aus SPD, CDU und FDP, aber auch die Fortsetzung der regierenden Linkskoalition aus SPD, Grünen und der Linken. Ein Bündnis von Grünen, CDU und FDP hätte ebenfalls eine sehr knappe Mehrheit, gilt aber wegen der programmatischen Unterschiede als ausgeschlossen.

Der CDU-Landesvorsitzende Kai Wegner las das Wahlergebnis vor allem als eine Absage: "Frau Giffey wurde nicht gewählt, um Rot-Rot-Grün fortzusetzen." Das war insofern eine recht eigenwillige Interpretation, da die Grünen um fast vier Prozentpunkte zugelegt haben, die CDU aber nur um 0,4 Punkte.

Bettina Jarasch, die Spitzenkandidatin der Grünen, betonte am Montagnachmittag bei einer Pressekonferenz erneut, dass sie das "progressive Regierungsbündnis" aus SPD, Grünen und der Linken fortsetzen wolle. "Diese Koalition hat viele Dinge begonnen, die wir jetzt zu Ende bringen sollten." Darunter die massiven Investitionen für die Verkehrswende oder eine klimafreundlichere Stadt. Dies seien Themen, die den Grünen ähnlich wie die soziale Frage des Wohnens bei den Sondierungsgesprächen wichtig seien. Sie freue sich auf die Treffen mit Giffey, der sie bereits zum Wahlsieg gratuliert habe. Der Wahlkampf habe bei ihr keine Verletzungen zurückgelassen. "Ich hoffe, dass dies auch für Frau Giffey gilt."

Neubauten statt Enteignungen

Unabhängig davon, wer am Ende mit wem spricht, am Thema Mieten und Wohnen wird keine der nächsten Regierungsparteien vorbeikommen. In einem Volksentscheid sprachen sich am Sonntag 56,4 Prozent der Berlinerinnen und Berliner dafür aus, Immobilienkonzerne zu vergesellschaften. Davon wären renditeorientierte Unternehmen wie Deutsche Wohnen, Vonovia oder Akelius betroffen, die in Berlin jeweils mehr als 3000 Wohnungen besitzen. Bis auf einige Bezirke im Westen und Süden sowie auf einen kleinen Stadtteil im Osten überwogen in allen Berliner Bezirken die Ja-Stimmen für das Anliegen. In manchen Teilen von Kreuzberg und Neukölln lag die Zustimmung sogar um die 80 Prozent.

Die "Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen", die das Volksbegehren gestartet hat, das in den Volksentscheid mündete, kündigte an, weiter Druck zu machen. "Wir lassen nicht locker, bis die Vergesellschaftung von Wohnungskonzernen umgesetzt ist", sagte ein Sprecher im Rundfunk Berlin Brandenburg rbb. Vorerst stehen aber komplexe rechtliche Fragen im Raum. Den Besitz von Immobilienunternehmen zu vergesellschaften, dürfte verfassungsrechtlich ähnlich knifflig sein wie die Einführung des Mietendeckels. Denn es würde bedeuten, dass die Konzerne nicht nur juristisch sauber enteignet, sondern auch mit vielen Milliarden entschädigt werden müssten.

SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey sagte dann auch, sie werde den Willen der Bevölkerung respektieren. Was genau das bedeute, ließ sie jedoch noch offen; ein möglicher Gesetzentwurf müsse auch verfassungsrechtlich geprüft werden, betonte sie. Das ist bemerkenswert, da der letzte Versuch des Senats, auf den Wohnungsmarkt einzuwirken, nach Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert ist. Die Richter in Karlsruhe hatten den sogenannten Mietendeckel im Frühjahr für verfassungswidrig erklärt. Giffey galt nie als Unterstützerin des Mietendeckels; sie will das Wohnproblem wie CDU und FDP vor allem durch Neubauten lösen.

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