Süddeutsche Zeitung

Internationale Politik:Nichts als Zumutungen

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Prophetisch, was Russland angeht, und auch sonst recht düster: Joschka Fischer über "die Neuausrichtung der Weltpolitik".

Von Johan Schloemann

Während andere sich noch mit der "Zeitenwende" aufhalten, stellt uns der Ex-Außenminister und Keynote-Speaker Joschka Fischer den "Zeitenbruch" in Aussicht. Sein neues Werk holt zunächst menschheitsgeschichtlich weit aus - mit Anleihen bei einem Sachbuch-Genre, das man "Big History" nennt - und sagt dann einen schmerzlichen, aber unausweichlichen Prozess voraus: Die Weltpolitik muss sich im Kampf gegen den Klimawandel und um Ressourcen "hin zu einer Logik der Selbsterhaltung als Gattung" bewegen.

Der Hindernisse waren schon vor dem Krieg in der Ukraine viele. Sein Buch hat Joschka Fischer vorher fertig geschrieben, und so ist es vor allem unter einem Aspekt von Interesse: hinsichtlich der Frage, wie die alte Welt der Machtpolitik und eine neue der nachhaltigen globalen Kooperation zusammengehen. Nämlich schlecht.

Willkommen in Absurdistan

Die Bedrohung durch Wladimir Putins Neoimperialismus war schon länger spürbar, und so achtet man bei der Lektüre besonders auf Fischers Blick auf Russland und findet Passagen, die sich prophetisch oder auch einfach sehr ernüchternd lesen: "Ein sich heute abzeichnender neuer Rüstungswettlauf unter den Großmächten wäre angesichts der enormen Kosten einer notwendigen globalen Dekarbonisierung der Weltwirtschaft an Absurdität kaum noch zu überbieten."

Nun denn, willkommen in einer absurden Welt. Würde Russland die Ukraine wirklich angreifen: "Nicht mehr die Dekarbonisierung der europäischen Energiemärkte stünde plötzlich im Vordergrund, sondern die Gewährleistung der Versorgungssicherheit." Willkommen in Katar, Herr Minister Habeck.

Auch die Rivalität zwischen den USA und China verhindere auf archaische Weise den Mut, gegen die Klimakrise wirklich vorzugehen. Und "Russlands Beitrag", schreibt Fischer, "besteht darin, zur Welt der Einflusszonen der Großmächte zurückkehren zu wollen, während die drängende Überlebensfrage für die gesamte Gattung des Homo sapiens doch längst im Vordergrund stehen müsste".

Ja, müsste: Fischer fordert von der Menschheit eine "normative Neuorientierung". Er folgt dem Soziologen Bruno Latour in der Analyse, dass ein neues Verständnis von "Geo-Politik" auch eine neue Beziehung zwischen Mensch und Erde erzwingt. Aber dafür, wie man denn vom Sollen zum Sein kommen könnte, liefert Fischers Buch leider wenig Hilfestellung. Auch da, wo die Ratschläge konkreter und lokaler werden, nämlich an die neue Bundesregierung, die wieder ein grünes Außenministerium hat, sind nur Dilemmata im Angebot: Es sei die erste Regierung seit Gründung der Bundesrepublik, "die es mit der doppelten politischen Realität der planetaren Transformation und einer Rückkehr von Großmachtpolitik auf globaler Ebene zu tun hat". Und Olaf Scholz müsse "ein Kanzler der Zumutungen" werden. Dazu gehört auch: die düstere Prosa des Ex-Ministers zu lesen, bei der man sein verkniffenes, besorgtes Gesicht vor sich sieht.

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