Süddeutsche Zeitung

Nahostkonflikt:Israel im Visier des Weltstrafgerichts

Lesezeit: 2 min

Die Chefanklägerin in Den Haag geht nun offiziell dem Verdacht auf Kriegsverbrechen auf israelischer und palästinensischer Seite nach. Premier Netanjahu ist empört und erkennt "reinen Antisemitismus".

Von Peter Münch, Tel Aviv

In den ewigen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern schaltet sich nun auch noch eine dritte Instanz ein: der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Dort wurden jetzt offizielle Ermittlungen zu Kriegsverbrechen im Westjordanland und im Gazastreifen eingeleitet. Als Verdächtige gelten auf israelischer Seite noch namenlose Mitglieder der Armee und Behördenvertreter. Bei den Palästinensern richten sich die Ermittlungen gegen die Hamas und andere bewaffnete Gruppen.

In Israel löste die Nachricht große Empörung aus. Premierminister Benjamin Netanjahu schimpfte über "reinen Antisemitismus". Die palästinensische Autonomiebehörde dagegen freute sich über einen "lange erwarteten Schritt".

Untersucht werden sollen drei Problemfelder: der siebenwöchige Gazakrieg von 2014, gewaltsame Auseinandersetzungen an der Grenze zum Gazastreifen vom Frühjahr 2018 an sowie der seit Jahrzehnten betriebene israelische Siedlungsbau im Westjordanland und in Ostjerusalem. Die Haager Chefanklägerin Fatou Bensouda, die im Sommer aus dem Amt scheidet, versprach, die Ermittlungen würden "unabhängig, unparteiisch, objektiv und ohne Angst oder Gefallen" durchgeführt werden.

Der Weg für die Ermittlungen war bereits Anfang Februar geebnet worden, als ein Richtergremium die Zuständigkeit des ICC für die Palästinensergebiete bestätigte. Israel erkennt den Strafgerichtshof nicht an, ebenso wie zum Beispiel die USA, Russland oder China. Seit 2015 gehört jedoch Palästina zu den mehr als 120 Vertragsstaaten des ICC. Die palästinensische Führung in Ramallah hatte seither auf die Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen gedrungen, die im israelischen Onlineportal Walla als "palästinensische Nuklearoption" gegen Israel bezeichnet werden.

Der Präsident nennt den Vorgang "skandalös"

Entsprechend heftig fiel auch die Reaktion in Jerusalem aus. Netanjahu warf dem Gericht krasse Einseitigkeit vor. "Gegenüber Iran, Syrien oder anderen Diktaturen, die wirkliche Kriegsverbrechen begehen, zeigt sich das Gericht blind", klagte er. Zugleich verteidigte er die "heldenhaften und moralischen" Handlungen der israelischen Soldaten, die "gegen die grausamsten Terroristen der Welt kämpfen" müssten.

Breite Unterstützung bekam der Regierungschef von Präsident Reuven Rivlin und Politikern aus der Opposition. Rivlin nannte die Ermittlungen "skandalös", niemand könne Israel das Recht auf Selbstverteidigung absprechen. Gideon Saar von der Partei Neue Hoffnung, der Netanjahu bei der anstehenden Parlamentswahl am 23. März herausfordern will, kündigte an, dass eine Regierung unter seiner Führung jede "Politisierung des internationalen Rechts" bekämpfen werde. Allein israelische Menschenrechtsgruppen wie B'tselem begrüßten die Haager Ermittlungen. Sie seien "ein notwendiger Schritt nach Jahrzehnten, in denen Israel ungestraft Verbrechen begangen hat".

Zu erwarten ist, dass Israels Regierung den Internationalen Strafgerichtshof nun auf verschiedenen Ebenen unter Druck zu setzen versucht. Netanjahu kündigte dazu einen "Kampf um die Wahrheit in jedem Land und jedem Forum" an. Unterstützung bekam er sofort aus Washington. Der neue Außenminister Antony Blinken sprach dem Gericht die Zuständigkeit ab, weil die Palästinenser noch keinen eigenen Staat hätten.

Auf eine ähnliche Argumentationslinie hatte sich zuvor schon der deutsche Außenminister Heiko Maas zurückgezogen. Anders als die USA gehört Deutschland jedoch zu den Vertragsstaaten des ICC und zählte zu den treibenden Kräften bei dessen Gründung.

Bis zu Anklagen können Jahre vergehen

So gewaltig die Wut auf israelischer Seite ist, so groß ist die Freude im Lager der Palästinenser. Auch ein Sprecher der Hamas, die wegen des Raketenbeschusses auf israelische Zivilisten ebenfalls im Fadenkreuz der Ermittler steht, begrüßte es, dass nun "Kriegsverbrechen der israelischen Besatzung gegen unser Volk" untersucht würden. Die eigenen Handlungen bezeichnete er als "legitimen Widerstand", der vom internationalen Recht gedeckt sei.

Bis zu möglichen Anklagen wird es jedoch noch Jahre dauern. Den ICC-Statuten zufolge kann es dazu ohnehin nur kommen, wenn die Staaten eigene Ermittlungen verweigern. Medienberichten zufolge wurden in Israel jedoch schon Listen mit möglichen Zielpersonen der ICC-Ermittler erstellt. Verteidigungsminister Benny Gantz, der als Generalstabschef zur Zeit des Gazakriegs 2014 selbst zur Zielgruppe gehören könnte, warnte bereits, dass Hunderte Israelis betroffen sein könnten.

Dagegen spricht allerdings, dass sich der Internationale Strafgerichtshof bislang eher auf die Verfolgung Einzelner konzentriert hat. In den fast 20 Jahren seines Bestehens hat er bislang erst rund 60 Haftbefehle gegen Verdächtige erlassen.

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