Süddeutsche Zeitung

Corona-Ausbruch:NRW zieht die Notbremse kurz vor Ferienbeginn

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Nach dem Corona-Ausbruch bei Tönnies müssen ganze Regionen in NRW das öffentliche Leben wieder massiv einschränken. Vor drastischeren Schritten schreckt Ministerpräsident Laschet zurück.

Von Kristiana Ludwig, Berlin, und Jana Stegemann, Düsseldorf

Tiefrot leuchtet der Kreis Gütersloh auf der Deutschlandkarte. Eine Mitarbeiterin des Robert-Koch-Instituts (RKI) präsentiert die Grafik am Dienstagvormittag Journalisten. Nirgends gibt es so viele Corona-Infektionen wie hier, das zeigt die Farbgebung, weil sich Arbeiterinnen und Arbeiter der Großschlachterei Tönnies reihenweise infizierten. Von einem "massiven Ausbruchsgeschehen", spricht das Institut, auch der benachbarte Landkreis Warendorf ist betroffen. Er ist auf der Karte ebenfalls längst nicht mehr blassgelb gefärbt, so wie der Großteil der Bundesrepublik, sondern knallrot.

Die Pressebriefings, in denen RKI-Chef Lothar Wieler über den Stand der Pandemie informiert, sind selten geworden. Die Gefahr, sich das Virus in Deutschland einzufangen und schwer an Covid-19 zu erkranken, war in den vergangenen Wochen vielerorts gesunken - dank drastischer Beschränkungen des öffentlichen Lebens von März an. In den meisten Regionen sei das nicht mehr nötig, hieß es. Bis jetzt.

Nun sagt Wieler, die Infektionszahlen wüchsen wieder. Der Reproduktionswert habe "lange Zeit stabil unter 1" gelegen, "aber in den letzten Tagen ist er gestiegen". Seit Sonntag liege er zwischen 2 und 3. Grund dafür seien wahrscheinlich einzelne Ausbrüche, so wie in Berlin, Göttingen und eben in Gütersloh.

Noch bevor das Briefing des Robert-Koch-Instituts endet, tritt in Düsseldorf Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) vor die Presse und spricht vom bisher "größten Infektionsgeschehen" in seinem Bundesland und in Deutschland. Bis zum Ende des Monats müsse er das öffentliche Leben in Gütersloh wieder streng einschränken. Diese Maßnahme betrifft fast 370 000 Menschen. Am Nachmittag gibt NRWs Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) dann auch noch strenge Auflagen für den Nachbarkreis Warendorf bekannt.

Das heißt, dass dort wieder die Kontaktbeschränkungen vom März in Kraft treten, wonach sich nur Menschen aus einem Hausstand mit höchstens einer Person außerhalb ihres Haushalts in der Öffentlichkeit treffen dürfen. Kulturveranstaltungen sind verboten, Fitnessstudios, Bars und Kinos werden wieder geschlossen. Restaurants dürfen unter strengen Auflagen geöffnet bleiben; ebenso Geschäfte.

Warum sich gerade beim Fleischverarbeiter Tönnies im ostwestfälischen Rheda-Wiedenbrück mehr als 1550 Beschäftigte nachweislich mit dem Coronavirus infizierten und auch viele andere deutsche Schlachthöfe zu Hotspots der Epidemie geworden sind, erklärte RKI-Chef Wieler mit unterschiedlichen Faktoren. Einerseits spielten die häufig beengten Wohnverhältnisse der Arbeiter eine Rolle, genau wie ihre eingeschränkten Möglichkeiten, bei der harten Fabrikarbeit Abstand zu halten. Andererseits könnte auch die kühle Temperatur in den Betrieben und die feuchte Luft, die ansteckende Aerosole begünstigt, zu mehr Übertragungen führen. Welcher Punkt den Ausschlag gebe, sei allerdings noch eine "offene Frage", sagt Wieler.

In NRW heißt es, der mutmaßliche Infektionsherd sei die Zerlegeabteilung in der Tönnies-Großschlachterei gewesen. Also der Ort, an dem Arbeiter dicht gedrängt, bei niedrigen Temperaturen, im Akkord Schweinehälften zerschneiden.

Genauso offen lässt Wieler, wann das Institut nicht mehr von einzelnen Ausbrüchen in Deutschland, sondern von einer zweiten Welle der Epidemie sprechen werde. Wenn die Zahl der Infektionen steige, die Krankheitsverläufe schwerer würden und die Klinikbetten knapp, werde "man irgendwann einen Schwellenwert haben, wo man von einer zweiten Welle spricht", sagt er. Den Ausschlag gebe auch, ob es sich bei den Ausbrüchen weiter um regionale Phänomene handele oder ob Infizierte das Virus quer durch die Republik trügen und die Zahlen an immer mehr Orten stiegen.

Folgt man dieser Logik, müsste Ministerpräsident Laschet nun mit seinen Gütersloher und Warendorfer Auflagen dafür sorgen, dass die Menschen nicht samt Virus an die Ostsee fahren und in die Alpen - damit aus einem westfälischen Problem keines für ganz Deutschland wird. Doch das tut er nicht.

Auf die Frage, ob die Menschen aus Gütersloh jetzt ihre Sommerurlaube absagen müssten, antwortet Laschet: "Es gilt das Gleiche wie im Lockdown, den wir hatten. Es gab kein Verbot, es gab keine Reiseeinschränkung, wir haben keine Ausreiseverbote erteilt, zu keiner Minute. Man kann jetzt den Menschen sagen, die ihren Urlaub planen wollen, dass sie das natürlich machen können." Doch im nächsten Atemzug appelliert Laschet an die betroffenen Bürger, "jetzt nicht aus dem Kreis heraus in andere Kreise zu fahren, sondern jetzt im Kreis zu bleiben und das Kontaktverbot auch einzuhalten. Das wird auch kontrolliert werden, die Frage ist, in welcher Form."

Der CDU-Mann setzt jetzt zu einem erneuten Erklärungsversuch an: "Das, was wir hier machen, hat es in Deutschland noch nicht gegeben. Dass ein ganzer Kreis einen Lockdown erlebt, aber nur der Kreis. Das haben wir seit den Öffnungen der letzten Monate nicht erlebt, weil alles immer für ganz Deutschland und für ganz Nordrhein-Westfalen galt." Man wolle durch das regionale Herunterfahren verhindern, dass Maßnahmen für das ganze Land nötig würden. Noch am Sonntag hatte Laschet bei einem Besuch in der Region für Erleichterung gesorgt, als er einen Lockdown zwar androhte, aber noch nicht verkündete. Zwei Tage später ist alles anders. Die Maßnahme jetzt kommt für die Ostwestfalen und die Münsterländer zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt, denn am Samstag beginnen die Sommerferien in NRW. "Ich habe das rechtlich prüfen lassen, es ist kompliziert", sagt Laschet, jetzt lächelt er so, wie er immer lächelt, wenn er versucht etwas zu erklären, das kompliziert ist und von dem er weiß, dass es ihn in Schwierigkeiten bringen könnte. Je mehr er versucht, sich zu erklären, desto heftiger bewegt Laschet seine rechte Hand, dreht und wendet sie. Das verhängte Kontaktverbot und die Kontaktbeschränkungen "gelten immer nur bezogen auf den Kreis". Das heißt also, wer Gütersloh verlässt, ist von den Auflagen befreit? Ja, für die Bewohner gelte kein generelles Ausreiseverbot, sagt Laschet.

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, der seit Tagen vehement einen Lockdown in Gütersloh gefordert hatte, warnt nun davor, dass Menschen aus dem betroffenen Kreis in den Urlaub fahren, ohne zuvor getestet worden zu sein. "Dann besteht die Gefahr, dass das Virus aus Gütersloh wieder verbreitet wird", sagte der Epidemiologe der Rheinischen Post. Die Bundesländer Bayern und Mecklenburg-Vorpommern haben bereits reagiert. Dort dürfen nur Westfalen, die einen negativen Corona-Test vorlegen, Urlaub machen.

Schleswig-Holstein kündigte eine Quarantäne für Reisende aus beiden Kreisen an.

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SZ vom 24.06.2020
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