Süddeutsche Zeitung

Wahlkampf:299 kleine Bundestagswahlen

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Am 26. September geht es nicht nur um die Mehrheit im Bundestag, sondern auch um die Macht in den Wahlkreisen. Eine neue Prognose sagt deutliche Einbußen der Union voraus - und 25 Direktmandate für die Grünen.

Von Robert Roßmann, Berlin

Wie es bundesweit um die Parteien steht, lässt sich ziemlich einfach in Erfahrung bringen. Derzeit erscheint ja beinahe täglich eine neue Umfrage. Die Tendenz: Union und Grüne verlieren an Zustimmung, die SPD legt zu. Aber was sagt das für die einzelnen Wahlkreise aus? Es geht am 26. September ja nicht nur um die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag. Es geht auch um die Macht in 299 Wahlkreisen.

In Potsdam treten zum Beispiel die Kanzlerkandidaten von SPD und Grünen, Olaf Scholz und Annalena Baerbock, gegeneinander an. In Berlin-Treptow-Köpenick muss der Linke Gregor Gysi sein Direktmandat gegen die Olympiasiegerin Claudia Pechstein verteidigen, sie geht für die CDU ins Rennen. Und im Süden Thüringens will der Sozialdemokrat Frank Ullrich, auch er ein Olympiasieger, den Einzug von Ex-Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen (CDU) in den Bundestag verhindern.

Wie es bei Duellen wie diesen steht, dazu erfährt man in den vielen nationalen Umfragen nichts. Die Experten von Election.de präsentieren dazu aber regelmäßig Zahlen. Die neuesten stammen von diesem Freitag. Und sie zeigen, dass nicht nur im Bundestag, sondern auch in den Wahlkreisen deutliche Veränderungen zu erwarten sind.

Bei der Bundestagswahl 2017 hatten CDU und CSU insgesamt 231 Direktmandate errungen. Die SPD kam auf 59, die Linke auf fünf und die AfD auf drei. Die Grünen konnten nur einen Wahlkreis gewinnen - die Liberalen gar keinen.

Union verliert 30 Direktmandate

Laut der neuen Prognose von Election.de können sich die Grünen auf einen gewaltigen Zuwachs auf 25 Direktmandate freuen. Die beiden Unionsparteien kommen nur noch auf 201. Die SPD schafft es inzwischen wieder, ihr altes Niveau zu erreichen (jetzt 61). Die AfD legt auf acht Direktmandate zu, die Linke rangiert nur noch bei vier. Die FDP geht weiterhin leer aus.

Aber wie kommt das Prognose-Portal auf seine Zahlen? "Unser Verfahren ist ein mathematisches Projektionsverfahren, wir machen für die bundesweite Wahlkreisprognose keine eigenen Umfragen", sagt Matthias Moehl von Election.de. In die Prognose würden stattdessen "die Ergebnisse früherer Bundestags-, Landtags- und Europawahlen und die aktuellen repräsentativen Umfragen anderer Institute" eingehen. Außerdem berücksichtige man eigene "Erkenntnisse zum Stimmensplitting zwischen Erst- und Zweitstimme - und wir schauen auf die Kandidatinnen und Kandidaten in den Wahlkreisen, zum Beispiel darauf, ob jemand Neues antritt". Es gehe "also auch um die Wahlkreisperformance der Kandidaten". In Großbritannien hätten solche Verfahren eine lange Tradition, sagt Moehl. Denn wegen des dortigen Wahlrechts komme es "dort ja nicht auf das landesweite Resultat, sondern auf das Ergebnis in den einzelnen Wahlkreisen an".

Aber warum kommen die Unionsparteien trotz ihres Einbruchs in den nationalen Umfragen in der Prognose immer noch auf 201 Wahlkreissiege?

Zum einen nutze man die Umfragen von acht anderen Instituten, sagt Moehl. Einige von ihnen würden für die Union noch vergleichsweise hohe Werte ausweisen - wie Allensbach mit 27,5 Prozent. Im Mittel stünden die zugrunde gelegten Umfragen aktuell bei 25,6 Prozent für die Union, 19,1 Prozent für die SPD und 17,9 Prozent für die Grünen.

Die Union profitiere von Erststimmen der FDP-Wähler

Es gäbe aber noch weitere Aspekte, die man berücksichtigen müsse. Bei den Erststimmen, und um die gehe es in den Wahlkreisen, profitiere die Union noch immer stark vom Stimmensplitting durch Bürger, die mit der Zweitstimme FDP wählen. Da die Liberalen keine realistischen Chancen auf einen Direktwahlsieg hätten, würden viele FDP-Wähler ihre Erststimme Unionskandidaten geben. Früher konnte man einen ähnlich starken Effekt bei Grünen-Wählern erleben, die ihre Erststimme SPD-Kandidaten gaben. Dieses SPD/Grünen-Splitting nehme aber ab, "da die Grünen vielfach Chancen auf eigene Direktmandate haben und sich auch politisch zunehmend von der SPD lösen", sagt Moehl. Das berücksichtige man bei der Prognose.

Außerdem berücksichtigt Election.de, dass die Amtsinhaber - und das sind zu gut 75 Prozent Unionsabgeordnete - in der Regel einen Vorteil gegenüber ihren Herausforderern haben, zum Beispiel wegen des Bekanntheitseffekts. Manche sprechen auch von einem "Klebeeffekt", weil man Amtsinhaber nur schwer aus dem Amt gewählt bekomme. Laut Bundeswahlleiter gab es 2017 bei der bisher letzten Bundestagswahl nur in 21 der 299 Wahlkreise einen politischen Farbwechsel.

Und wie sieht es derzeit bei den Rennen in Potsdam, Treptow-Köpenick und im Süden Thüringens aus? Laut Election.de liegen Olaf Scholz, Gregor Gysi und Hans-Georg Maaßen vorn.

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