Süddeutsche Zeitung

Afghanistan:Hilfe, beflügelt von der Angst vor dem Chaos

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Die G-20-Staaten beraten über das von den Taliban beherrschte Land. Kanzlerin Merkel verteidigt die humanitäre Unterstützung, die EU sagt eine Milliarde Euro zu.

Von Oliver Meiler und Roland Preuß, Rom, Berlin

Das Not leidende afghanische Volk soll Hilfe bekommen, allein die EU-Kommission sagt eine weitere Milliarde Euro zu. Beim virtuellen G-20-Sondergipfel zu Afghanistan, den die italienische Präsidentschaft gegen Widerstände einiger Mitgliedstaaten organisiert hat, ging es vor allem um Versprechen und humanitäre Gesten. Seit dem Abzug der westlichen Streitkräfte und der schnellen Machtübernahme der Taliban leidet das Land unter einem dramatischen wirtschaftlichen Zerfall.

Internationale Darlehen und Subventionen sind gestoppt worden aus Sorge, sie könnten den Islamisten zufallen. Die USA blockierten Milliarden der afghanischen Zentralbank, die im Ausland liegen. Die Regierung in Kabul lässt deshalb nur noch kleine Barbezüge in den Banken zu, die Beamtenlöhne wurden gekürzt. Vielen Geschäften droht die Schließung, weil es an Kunden fehlt. Ohne Hilfe, so gaben die Vereinten Nationen kürzlich zu bedenken, seien 97 Prozent der afghanischen Bevölkerung unmittelbar von Armut bedroht. Ausgerechnet in diesem Jahr kündigt sich auch noch die schlechteste Ernte seit 35 Jahren an, wie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO bekannt gab.

Kanzlerin Angela Merkel verteidigte nach dem Gipfel die Entscheidung, den Afghanen humanitäre Hilfe zu leisten, obwohl man so auch das Taliban-Regime indirekt stützen könnte. "Wir alle haben nichts davon, wenn in Afghanistan das ganze Finanz- oder Währungssystem zusammenbricht", sagte Merkel in Berlin. Es könne nicht im Interesse der Staatengemeinschaft sein zuzusehen, wie die Menschen dort ins Chaos fielen. Die humanitäre Hilfe vereinfache auch Fragen der Migration, sagte Merkel weiter - und ging damit auf Befürchtungen vor einer Flüchtlingswelle ein. Man müsse gemeinsam dafür sorgen, dass die Menschen in der Nähe von Afghanistan oder im Land selbst leben könnten.

Die schlechte Lage in dem Land zeigt sich bereits an der Zahl der Afghanen, die in Deutschland Asyl beantragen. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) haben in diesem Jahr bis Ende September etwas mehr 15 000 Afghanen erstmals um Asyl ersucht, das waren mehr als doppelt so viele wie noch im Jahr 2020. Die meisten Asylbewerber kommen allerdings nach wie vor aus Syrien (fast 40 500 Anträge). Etwa 40 Prozent der Anträge von Afghanen in Deutschland waren erfolgreich, das heißt, die Menschen durften zumindest vorerst bleiben, fast ein Zehntel der Begehren wurde abgelehnt, die übrigen hatten sich auf andere Art erledigt, etwa dadurch, dass die Afghanen an andere EU-Staaten verwiesen wurden, die für ihr Asylverfahren zuständig sind.

Italien sieht den Sondergipfel als Erfolg für Mario Draghi

Nach Ansicht der Italiener ist der G-20-Gipfel ein großer diplomatischer Erfolg ihres Premiers Mario Draghi, obschon es am Ende keine bindende Schlusserklärung gab. Draghi hatte wochenlang dafür geworben, dass sich die Welt möglichst schnell der humanitären Not annehme, zumal der abrupte Abzug der Einsatzmächte dazu beigetragen habe. Die reichen Länder seien verpflichtet, der afghanischen Bevölkerung zu helfen.

Draghi konnte allerdings nicht alle Staats- und Regierungschef der G 20 davon überzeugen, an der Videokonferenz teilzunehmen. Der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping ließ sich von seinem Außenminister vertreten, der russische Präsident Wladimir Putin beauftragte einen Vizeminister. Dieselben Länder hatten sich vor ein paar Wochen auch gegen die Berufung eines "Sonderberichterstatters" der UN für die Menschenrechtssituation in Afghanistan gewehrt.

Die Nutzung der G 20 als Forum für eine solche geopolitisch komplexe Diskussion gilt als innovativ; im Normalfall behandeln die mächtigsten Industriestaaten in dieser Zusammensetzung Wirtschafts- und Handelsthemen. Außer den üblichen Mitgliedern waren auch Singapur, Spanien, die Niederlande und Katar eingeladen. Xi Jinping wird auch Ende des Monats nicht am G-20-Gipfel in Rom teilnehmen. Seit Ausbruch der Pandemie verlässt er sein Land nicht mehr.

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