Süddeutsche Zeitung

Kultur:Die ersten Highlights des Münchner Literaturjahrs

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2023 beginnt rauschend - mit Lesungen von Kim de l'Horizon, Bernardine Evaristo oder Virginie Despentes.

Von Antje Weber

Das Element der Sprache ist das Flüssige, glaubt Kim de l'Horizon. Es ist das "Träge, das Tiefe, Latente, das Tragende, Mitreissende, Anbrandende, das Ertränkende, Speichernde, Leben Gebende, Unerschöpfliche, Spiegelnde, Monster Beherbergende, Auflösende". Auch das Schreiben, so lässt sich im Roman "Blutbuch" lesen, sei dementsprechend eine Wellenlinie, "eine von weither kommende Woge, die lange vor mir begonnen hat und lange nach mir weiterfliessen wird".

Diese Woge des Schreibens hat Kim de l'Horizon bereits weit getragen, unter anderem zum Gewinn des Deutschen wie auch des Schweizer Buchpreises 2022, um nun hoffentlich sanft bei einer Lesung im Literaturhaus München auszurollen, bevor es zurückgeht in den weiten Ozean der Wörter: "Weil ich immer ein Wasser war, mein Körper immer spürte, wie sehr er ein Fliessen ist, ein In-Bewegung-Sein", wie Kim de l'Horizon schreibt.

Wie lassen sich starre Körperbilder und Geschlechterdefinitionen aufbrechen, zum Fließen bringen, wie kann und muss die Sprache darauf reagieren? Kim de l'Horizon ist ein lesenswerter Roman zu diesem vieldiskutierten Thema gelungen - und die Präsentation von "Blutbuch" am 23. Januar ein erstes Glanzlicht des Münchner Literaturjahres, das in den kommenden Wochen noch einiges mehr an Sternenfunkeln zu bieten hat.

Um zunächst beim Literaturhaus und der Geschlechterfrage zu bleiben: Kim de l'Horizons Lesung passt hervorragend ins reiche Begleitprogramm der derzeitigen Ausstellung über Simone de Beauvoir. "On ne naît pas femme, on le devient" - man wird nicht als Frau geboren, sondern man wird es, lautet der berühmteste Satz der französischen Schriftstellerin und Feministin. Kim de l'Horizon, sich selbst als non-binäre Person definierend, würde das heute wohl anders formulieren. Einig wären sich beide aber sicher darin: Man muss die patriarchalen Verhältnisse zum Tanzen bringen. Oder zum Fließen.

Kim de l'Horizon hat das nicht nur bei der Preisverleihung zum Deutschen Buchpreis in Frankfurt versucht - sich vor laufenden Kameras die Haare abzurasieren, provozierte als Statement neben Bewunderung auch einigen Hass. Auch ein Roman mit einer non-binären Erzählfigur, der eigenen Familiengeschichte und damit der uralten Unterdrückung und Verfolgung von Frauen unter anderem als Hexen auf der Spur, ist heutzutage noch nicht Mainstream. Eher schon ist dies der Versuch eines Heilzaubers, in den Wind of Change gemurmelt, mit Märchenanklängen ebenso wie expliziten Sexszenen. Ein Buch, das durch diverse Formen und Sprachen rauscht, ein Lob der Ambivalenz und Vielfalt. Vielleicht also: Wassermagie.

Starre Regeln, die eine Gesellschaft den Menschen, ihren Körpern und ihrem Liebesleben auferlegt - mit diesem Thema kennt sich auch die britische Schriftstellerin Bernardine Evaristo aus, seit dem Booker-Preis für ihren Roman "Mädchen, Frau etc." ein Literaturstar. Sie wird im Begleitprogramm der Ausstellung am 15. März ihren Roman "Mr. Loverman" vorstellen. Nicht genug der Prominenz: Auch die US-amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt wird mit einem neuen Essayband mit dem vielsagenden Titel "Mütter, Väter und Täter" erwartet (10. März), des Weiteren die französische Bestsellerautorin Virginie Despentes mit dem noch etwas lauter klingenden Romantitel "Liebes Arschloch" (26. April).

Doch warum zu sehr in die fernere Zukunft schweifen - auch in den kommenden Wochen ist im Literaturhaus bereits einiges geboten: Daniela Dröscher etwa wird am 24. Januar anhand ihres vielgelobten Romans "Lügen über meine Mutter" über zerstörerische Beziehungen sprechen. Was das oft grausame Verhältnis der Menschen zueinander angeht, nennen wir sie der Gewohnheit halber Männer und Frauen, wartet auch Ulrike Draesner mit einem mächtigen Wortzauber auf: "Die Verwandelten" heißt ihr neuer Roman, der Frauen mehrerer Generationen zu Wort kommen lässt - und dem Beschweigen von kollektiven Traumata wie etwa Vergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg ein Ende setzt (7. Februar).

Auch in Dörte Hansens Roman "Zur See" geht es um (Familien-)Beziehungen - mit viel Meeresrauschen: "Alle Inseln ziehen Menschen an, die Wunden haben, Ausschläge auf Haut und Seele. Die nicht mehr richtig atmen können oder nicht mehr glauben, die verlassen wurden oder jemanden verlassen haben", schreibt sie. "Und die See soll es dann richten, und der Wind soll pusten, bis es nicht mehr wehtut." Auch wenn das natürlich nicht immer so einfach ist - Dörte Hansen kennt sich nicht nur mit Nordsee-Inseln aus, auch ihr Schreiben ist eine nicht endende Welle des Erfolgs. Die Bestsellerautorin liest am 28. Januar im Literaturhaus, wo außerdem unter anderen der bosnische Altmeister Dževad Karahasan (26. Januar) und der senegalesisch-französische Jungstar Mohamed Mbougar Sarr (8. Februar) angekündigt sind.

Doch es gibt ja noch ein paar Institutionen mehr, die sich in München um Bücher schreibende und lesende Personen bemühen. Theater wie die Kammerspiele zum Beispiel, in deren Habibi Kiosk am 21. Januar der deutsch-marokkanische Autor Mohamed Amjahid liest, oder das Volkstheater, wo der Schauspieler und Autor Steffen Schroeder am 26. Januar anhand seines neuen Romans "Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor" die Freundschaft zwischen Max Planck und Albert Einstein analysiert.

Bedeutenden Frauen zugewandt zeigt sich dagegen wiederum die Monacensia. Das Literaturarchiv erweitert derzeit stetig sein Online-Magazin zur eigenen Ausstellung "Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890 - 1920" - und hat nach einem ersten Buch zum Thema jüngst einen weiteren Begleitband mit viel Material zu Autorinnen wie Emmy Hennings, Franziska zu Reventlow oder Else Lasker-Schüler herausgegeben.

Mit der hiesigen Szene ist man in der Monacensia aber nicht nur historisch gesehen bestens vernetzt, wie ein "Fest für alle Münchner Autor*innen und Literaturinteressierten" am 20. Januar wieder einmal beweisen wird. Christina Madenach, Korbinian Jaud, Dagmar Leupold, Zafer Şenocak, Beatrix Rinke und Luvan werden lesen, musikalisch umrahmt von den DJs Ayda, Funky Francis und Mira Mann.

Lieber in den Fluss eines Gedichts eintauchen? Die junge Spoken-Word-Szene ist unter anderem im Muffatwerk (31. Januar) reimend aktiv; ins alte China versetzen dagegen zum Beispiel die feinen Übersetzungen des Sinologen Thomas O. Höllmann im Lyrik Kabinett (1. Februar). "Erwartung und Melancholie" heißt sein neuer Band; ein Titel, der auch gut zu einer anderen Veranstaltung passt, bei der die Gegenwart ganz nah wirkt: Die ukrainische Lyrikerin Halyna Petrosanyak, seit vergangenem Jahr Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, liest dort am 19. Januar aus ihrem Werk.

Da sind sie dann wieder, die vielen ungelösten Probleme insbesondere eines Krieges in Europa, die auch in dieses Jahr hineinfluten. Und man würde sich so sehr wünschen, dass auch Petrosanyaks Zeilen als Heilzauber wirken; dass sie Bewegung in die Sprache bringen und in die Welt.

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