Süddeutsche Zeitung

Fragwürdiger Kommentar über Urteile zum Hitler-Putsch:Sympathien für Hitler

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Im April 1924 ergingen die milden Urteile gegen Adolf Hitler und Erich Ludendorff, die sich an die Macht putschen wollten. Die Münchner Neuesten Nachrichten, Vorgängerzeitung der SZ, kommentierten dies damals auf fragwürdige Weise.

Von René Hofmann

Es ging hoch her im voll besetzten Gerichtssaal in der Infanterieschule am 1. April 1924. "Ich empfinde diesen Freispruch als eine Schande für den Rock und für die Ehrenzeichen, die ich trage", schmetterte Erich Ludendorff dem Gericht entgegen. Der General war in Uniform erschienen. Die Erklärung - so schilderten es Augenzeugen - löste brausende Heilrufe aus. Als sich Adolf Hitler, Friedrich Weber, Hermann Kriebel und Ernst Pöhner, die zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt wurden, vor ihrem Abtransport an einem Fenster zeigten, brach die Menge, die sich auf der Straße davor versammelt hatte, in Jubel aus.

Es hätte sich viel Kritisches anmerken lassen an den Urteilen im sogenannten Hitler-Prozess, in dem der Putschversuch vom 8. und 9. November 1923 verhandelt wurde, als Adolf Hitler und Erich Ludendorff von München aus einen "Marsch auf Berlin" gestartet hatten - mit dem Ziel, die demokratische Ordnung zu stürzen und eine Diktatur zu installieren. Der Marsch war am Odeonsplatz von der bayerischen Polizei mit Waffengewalt gestoppt worden. Mehr als ein Dutzend Putschisten starben, vier Polizisten kamen ums Leben und ein Passant.

Ludendorffs Rolle bei dem Gaunerstück war ebenso eindeutig wie Hitlers. Trotzdem kam der eine sofort frei und dem anderen wurde trotz des Hochverrats in Aussicht gestellt, bei guter Führung schon nach sechs Monaten wieder auf Bewährung in Freiheit zu sein. War das nicht lächerlich? Mussten das die Republik-Feinde nicht als Ermunterung verstehen?

Die Münchner Neuesten Nachrichten, die Vorgängerzeitung der SZ, stellten diese Fragen nicht. Sie räumten der Berichterstattung über den Prozess viel Raum ein. Auf drei Seiten dokumentierten sie die Urteilsbegründungen. Zudem gab es einen Leitartikel auf der Titelseite. In diesem hieß er: "Wir machen keinen Hehl daraus, dass unsere menschlichen Sympathien auf Seite der Angeklagten in diesem Prozess und nicht auf Seite der Novemberverbrecher vom Jahre 1918 stehen."

Das namentlich nicht gekennzeichnete Stück endet mit dem Absatz: "Die Männer vom November 1923 haben für sich nicht den tatsächlichen Erfolg - ja, wir können nicht umhin zu sagen, was sie erstrebten, war unzeitgemäß, war vorzeitig und musste deswegen scheitern. Ob in München oder an der Nordgrenze Bayerns - ihr Versuch wäre immer totgelaufen, weil er weder die außenpolitische noch die innenpolitische Lage richtig in Rechnung stellte. Sie verkannten die nationalen Notwendigkeiten und trotz ihres achtenswerten Wollens musste das Gesetz über sie Herr werden..."

"Achtenswertes Wollen", das lediglich "vorzeitig" war? "Sympathien" für die Demokratie-Gegner und auf der anderen Seite die "Novemberverbrecher" - ein politischer Kampfbegriff der Rechtsextremen, mit dem diese die demokratischen Revolutionäre des Jahres 1918 belegten?

Die Lektüre lässt tatsächlich stutzen, zumal die Münchner Neuesten Nachrichten bisher im Ruf standen, sich nach 1923 "scharf gegen den Nationalsozialismus gewandt zu haben", wie unter anderem der Historiker Paul Hoser für das Historische Lexikon Bayerns 2006 notierte und wie es das Münchner NS-Dokumentationszentrum auf seiner Homepage auch aktuell noch transportiert.

Auf die historische Unschärfe hat anlässlich des hundertsten Jahrestages des Urteilsspruchs in dieser Woche ein prominenter Münchner aufmerksam gemacht: Christian Ude, 76, von 1993 bis 2014 Münchner Oberbürgermeister. Ude hat einen sehr persönlichen Bezug zu dem Thema, bei dem ein anderer prominenter Münchner SPD-Politiker eine zentrale Rolle spielt: Hans-Jochen Vogel, Münchens Oberbürgermeister der Jahre 1960 bis 1972.

Christian Ude hat Ende der 1960er-Jahre ein Volontariat bei der SZ absolviert und anschließend bei dieser als Redakteur gearbeitet. Nach einer Kontroverse, in der er Vogel Lücken in der städtischen Geschichtsarbeit bezüglich der 1920er-Jahre vorgehalten habe, hatte dieser ihn mahnend auf den Kommentar zum Hitler-Putsch hingewiesen, der - wegen der fehlenden namentlichen Kennzeichnung - als Erklärung der gesamten Redaktion verstanden werden könne und der in seiner Eindeutigkeit ungewöhnlich gewesen sei für ein nicht parteigebundenes Presseerzeugnis im Jahr 1924. Das Thema der historischen Aufarbeitung der Nazi-Zeit blieb für Vogel bis zu seinem Tod im Juli 2020 ein großes.

"Den Hans-Jochen hat das wirklich umgetrieben", sagt Christian Ude. Die Frage, ob Sozialdemokraten im Widerstand genug gemacht hätten, habe Vogel wegen der "Selbstschonung der Süddeutschen Zeitung" als "ungerecht" empfunden. Dies habe Vogel, so Ude, öffentlich zwar nie thematisiert, ihm aber als Vermächtnis zum Jahrestag des Hitler-Prozesses mitgegeben.

Die SZ erscheint seit Oktober 1945. Sie übernahm die Gebäude und die Druckmaschine der Münchner Neuesten Nachrichten (MNN). Um einen politischen und journalistischen Neuanfang zu signalisieren, erschien sie zunächst ohne expliziten Bezug auf die MNN, seit 1951 aber wird im Zeitungskopf auf die Vorgängerin verwiesen.

Die Erinnerung an Fritz Gerlich, MNN-Chefredakteur von 1920 bis 1928, der Hitlers Putschversuch 1923 in einem Artikel als "eine der größten Verrätereien an der deutschen Geschichte" bezeichnet hatte und 1934 von den Nazis im KZ Dachau ermordet wurde, wurde von der SZ vielfältig gepflegt - unter anderem mit einer Bronzetafel am ehemaligen Verlagsgebäude.

Um Transparenz herzustellen, dokumentiert die SZ den Leitartikel, der unter Fritz Gerlichs Ägide zu den Urteilen im Hitler-Prozess erschien, online in Gänze. Wer ihn geschrieben hat, ist bisher ungeklärt. Die SZ will dieser Frage nun nachgehen.

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