Süddeutsche Zeitung

Dokumentarfilmfestival München:Spiegel der Welt

Lesezeit: 5 min

Brisantes aus der Ukraine, Münchner Clubs in der Pandemie und der Lifestyle von Influencern: Das 37. Dok-Fest zeigt 124 sehr unterschiedliche Filme aus 55 Ländern. Erstmals geht das Festival im Kino und im Heimkino über die Bühne. Der große Überblick.

Von Bernhard Blöchl, Josef Grübl und Barbara Hordych

Etwas Positives hat die Pandemie gebracht: Der oft recht pauschal bejubelte Fortschritt der Digitalisierung zeigt sich beim Dok-Fest ganz konkret. Nach der rein digitalen Ausgabe 2020 und der hauptsächlich digitalen Edition 2021 präsentiert sich das Münchner Dokumentarfilmfestival in diesem Jahr in dualer Form. Das bedeutet: Die Partnerkinos sind wieder geöffnet (City-Atelier, Rio, Filmmuseum und Neues Maxim, außerdem werden unter anderem Amerikahaus, Deutsches Theater, HP8 und HFF zu Spielstätten), zusätzlich gibt es aber nach wie vor die Möglichkeit, die meisten der 124 Filme aus 55 Ländern im eigenen Wohnzimmer zu streamen. Diese neue Zweigleisigkeit bringt einerseits höhere Zuschauerzahlen, andererseits ein neues Selbstverständnis mit sich: "Unser höchstes Ziel ist die kollektive Teilhabe an unseren Filmen, sowohl in den Münchner Kinos als auch zu Hause", betonen die Festivalchefs Daniel Sponsel und Adele Kohout. Weil die Premieren exklusiv im Kino stattfinden sollen, gibt es einen zeitlich versetzten Start. So geht das 37. Dok-Fest von 4. bis 15. Mai real an den Münchner Spielstätten über die Bühne, von 9. bis 22. Mai dann auch digital zu Hause. Karten gibt es unter www.dokfest-muenchen.de.

Eröffnungsfilm und Ukraine-Schwerpunkt

Wer von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine überrascht war, scheint einiges vergessen zu haben, die Annexion der Krim etwa, oder den Anschlag auf Alexej Nawalny. Von Letzterem erzählt der Dokumentarfilm "Nawalny", mit dem das Dok-Fest am 4. Mai im Deutschen Theater eröffnet. Es fängt an mit Aufnahmen aus dem Flugzeug, in dem der russische Oppositionsführer mit dem Nervengift Nowitschok ermordet werden soll. Man sieht, wie er um sein Leben kämpft und wie er in Deutschland behandelt wird. Der Film des Kanadiers Daniel Roher ist ein Porträt Nawalnys, gleichzeitig bietet er Einblicke in das Reich Putins - und wie dieser mit Gegnern umgeht. Nach Russland geht es auch in "How to save a dead Friend" und "Pleistocene Park", das Festival zeigt aber auch Filme über die Ukraine: "Trenches" begleitet ukrainische Soldaten, die im Donbass gegen von Russland unterstützte Separatisten kämpfen. In "Donbas Days" geht es ebenfalls in die umkämpfte Region, hier gibt ein Zirkusartist Jugendlichen Jonglierunterricht. "Pushing Boundaries" wirft dagegen einen Blick auf die Krim: Nach der Annexion der Halbinsel im Jahr 2014 verliert das paralympische Team der Ukraine ihr Trainingszentrum - und macht trotzdem weiter. grü

Aus aller Welt

Der Gewinn des Reisens liege weniger darin, "was wir über fremde Länder erfahren, sondern in dem, was wir dabei über uns selbst lernen", schrieb der französische Schriftsteller Roger Peyrefitte einst. Das gilt noch immer, nur dass die Menschen in den Pandemie-Jahren etwas weniger Fernreisen unternahmen. Fremde Länder erkundet werden trotzdem, unter anderem im Kino: Filme aus 55 Ländern sind beim Dok-Fest zu sehen, es geht einmal um die Welt, nach Polen oder Peru, Mexiko oder Myanmar, Bulgarien oder Burkina Faso. Das diesjährige Gastland Spanien präsentiert sich mit fünf sehr unterschiedlichen Filmen, unter anderem der morbiden Mallorca-Doku "Magaluf Ghost Town". Die Retrospektive wirft einen Blick auf "Francos Schatten": Gleich sechs Filme beschäftigen sich mit den Folgen der Franco-Diktatur im Land. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Afrika, im Special "African Encounters" wird es auch eine Diskussionsrunde geben. Und wenn man Filme wie "Yoon" (über einen zwischen Portugal und dem Senegal hin- und herfahrenden Kurier) oder "Among Us Women" (über äthiopische Hebammen) sieht, merkt man: Die Welt ist groß, die Sorgen und Nöte der Menschen sind aber überall ähnlich. grü

München und Bayern

Zuweilen liegen die starken Themen in greifbarer Nähe. Wie es den Münchner Clubs während der Pandemie ergangen ist, zeigt "Geschlossene Gesellschaft" von Hans von Brockhausen und Max Weishaupt. Die Betreiber von Backstage, Harry Klein, Milla und P1 sprechen über die große Tristesse; zu sehen sind viele leere Räume im Wechsel mit wilden Partybildern. Wirklich Überraschendes bietet der Film nicht, als Dokument einer unvorstellbaren Zeit bis hin zur Rückkehr der Feiernden ist er durchaus wertvoll. Porträts von Münchner Künstlerpersönlichkeiten gibt es ebenfalls im Programm. "Verabredungen mit einem Dichter" nähert sich dem Verleger und Schriftsteller Michael Krüger. "Es braucht hoffnungslos lange, bis man so ungefähr erahnt, wer man ist", sagt die Stimme gleich zu Beginn. Der poetische Film von Frank Wierke hat nur 90 Minuten Zeit, das Wesen des Dichters zu erspüren, dem eine Leukämieerkrankung sichtlich zu schaffen macht. Die schönen, tröstlichen Sätze und Gedanken (zum Beispiel über Bäume) wirken lange nach. Um ein herausforderndes Erbe geht es in "A Sound Of My Own". Darin rückt Rebecca Zehr Marja Burchard in den Fokus ihrer Schwarz-Weiß-Bilder. Die Tochter von Christian Burchard lenkt seit 2016 dessen Münchner Krautrock-Institution Embryo, und der Film zeigt, wie sie die Herausforderung meistert. Aus bayerischer Sicht interessant: Robert Schabus' Lebensraumforschung "Alpenland" und Verena Wagners meditativer Experimentalfilm "Woid". blö

Kinder und Jugend

In der medialen Welt wird es zunehmend schwieriger, zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden. Das Erlernen von Medienkompetenz ist deshalb wichtiger denn je. Aus diesem Grund haben Maya Reichart und ihr Team Dok-Education ins Leben gerufen, das Bildungsprogramm des Dok-Fests für Kinder und Jugendliche. In ihrer "Schule des Sehens" setzen sich Schüler und Schülerinnen mit der medialen Darstellung von Wirklichkeit auseinander und lernen, künstlerische Filmerzählungen zu lesen. Lehrkräfte können das Online-Programm samt begleitenden Arbeitsmaterialien von Mai bis Juli deutschlandweit im Unterricht einsetzen - in den vergangenen zwei Pandemie-Jahren haben über 700 Lehrkräfte das Angebot für ihre Klassen genutzt. Dennoch lautet die gute Nachricht in diesem Jahr: Vom 9. bis zum 13. Mai gibt es wieder Präsenz-Seminare in Münchner Kinos. Gewählt werden kann unter drei kurzen Filmen, die im Anschluss mit Filmexpertinnen und Pädagogen analysiert werden. In "Jules und ich" etwa begleitet die belgische Regisseurin Anne Ballon die 14-jährige Roos, deren ältere Schwester einmal ihr Bruder war. Was aber wäre alle Film-Theorie ganz ohne Praxis? Am 7. Mai lädt der Kameramann Martin Noweck zum Workshop "Arbeiten mit der Kamera" ein. Er vermittelt erste Kenntnisse in Kameratechnik, Lichtgestaltung, Ton und Interviewführung. Wer bei Youtube oder im eigenen Film vor der Kamera stehen will, kann dazu einen anderen Profi befragen: Am 14. Mai verrät Julian Janssen, bekannt als "Checker Julian", in einem Workshop an der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) , wie man locker vor der Kamera wird. by

Reihen und Schwerpunkte

Erneut gibt es die großen Festivalreihen "Dok-international", "Dok-deutsch" und "Dok-Horizonte", die auch die Hauptwettbewerbe um die mit 10 000 Euro beziehungsweise 5000 Euro dotierten Viktor-Trophäen darstellen. Reihen wie "Dok-Music", "Dok-Panorama" oder "Best of Fests" sollen Besuchern ebenfalls Orientierung bieten. Die Themen der Filme quer durchs Programm sind so bunt wie das Leben, sie reichen von Kunst, Kultur und Virtual Reality bis Extremsport, moderne Arbeitswelten und umstrittene AfD-Politik. Es gibt Porträts berühmter Persönlichkeiten, zum Beispiel Hugh Hefner ("Secrets of Playboy") oder Charlotte Gainsbourg und Jane Birkin ("Jane by Charlotte"). Auch Schwerpunkte lassen sich herauslesen. So drehen sich mehrere Dokumentationen um Feminismus ("Alice Schwarzer") und LGBTQI ("Anima - Die Kleider meines Vaters"). Und auch das Phänomen der Selbstbespiegelung spielt eine große Rolle, etwa im Film "Girl Gang", der den Alltag einer sehr erfolgreichen und sehr jungen Influencerin zeigt. Oder im Film "Pornfluencer" über den Traum eines Paares vom schnellen Geld mit Sex vor der Kamera. blö

Hommage

In ihren Filmen begleitet sie Menschen aus der ganzen Welt, aus Guatemala, Uruguay, Kongo oder Äthiopien. Geboren wurde die Dokumentarfilmerin Heidi Specogna aber in Biel, die Schweizer Stadt grenzt an den Bielersee und liegt am Jurasüdfuss. Die Menschen, die auf der anderen Seeseite lebten und Französisch sprachen, hätten ihr Interesse an fremden Kulturen schon sehr früh geweckt, sagt sie. Sie besuchte die Journalistenschule in Zürich, in Berlin wurde sie zur Dokumentarfilmerin ausgebildet. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet Specogna in diesem Beruf, sie begleitet und beobachtet vor allem Menschen aus Lateinamerika und Afrika. Das Dok-Fest widmet ihr die Hommage: Sechs Filme aus vier Jahrzehnten stehen auf dem Programm, unter anderem "Das kurze Leben des José Antonio Gurierrez" aus dem Jahr 2006 oder ihr jüngster Film "Stand Up My Beauty" (2021), in dem es um eine Sängerin traditioneller äthiopischer Azmari-Musik geht. grü

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