Süddeutsche Zeitung

Erinnerung an Olympiaattentat:Tower am Fliegerhorst wird digitaler Gedenkort

Lesezeit: 4 min

Gut 50 Jahre nach der gescheiterten Befreiungsaktion der israelischen Geiseln in Fürstenfeldbruck startet die Stadt einen digitalen Erinnerungsort. Dem soll bald auch ein realer folgen.

Von Roman Deininger, Uwe Ritzer und Erich C. Setzwein

Klein sieht es aus, das braun-beige Flughafengebäude. Die verglasten Aufbauten und riesigen Antennen, die es einst als Tower auswiesen, sind längst abgetragen. Das große "C" an der Frontseite ist aber noch da, und überhaupt: Wer die historischen Bilder vom 5. und 6. September 1972 vor Augen hat, wird diesen Ort schnell erkennen. Am Rollfeld des Fliegerhorsts Fürstenfeldbruck endete vor 51 Jahren der Überfall palästinensischer Terroristen auf die israelische Olympiamannschaft in einem Blutbad, als der Versuch der bayerischen Polizei, die Geiseln zu befreien, dramatisch scheiterte. Das Olympia-Attentat raubte elf israelischen Sportlern und dem deutschen Polizisten Anton Fliegerbauer das Leben.

Fliegerbauer wurde unten im Erdgeschoss des Towergebäudes von einer Kugel niedergestreckt. Drinnen hat sich bis heute wenig verändert, karge Büros der Bundeswehr sind dort untergebracht, viele Räume sind verwaist. Besuchen kann man den Tower nur bei seltenen Gedenkveranstaltungen. Das ändert sich jetzt aber, zumindest virtuell: An diesem Freitag präsentiert der Landkreis Fürstenfeldbruck seinen "Digitalen Erinnerungsort Olympiaattentat 1972", der sowohl als Webseite als auch als Handy-App angeboten wird. Dem digitalen Erinnerungsort wollen die Verantwortlichen möglichst bald einen realen folgen lassen.

Was die Besucher der neuen Seite erwartet, ist ein digitales Storytelling der tragischen Ereignisse vom 5. und 6. September, angereichert durch Videointerviews mit Augenzeugen. Die Macher konnten auch noch mit dem ehemaligem Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel und dem Bürgermeister des olympischen Dorfes, Walther Tröger, sprechen - beide sind inzwischen gestorben. Deren Schilderungen sollen "Einblick in die Entscheidungsfindung der Verantwortlichen" geben, hofft das Projektteam um Leiterin Silke Seiz. In weiteren Zeitzeugenberichten teilen Sanitäter, Polizisten und Beamte des Bundesgrenzschutzes ihre mitunter berührenden Erinnerungen an die Ereignisse.

Noch aufwendiger ist die App "Erinnerungsort 72" für mobile Endgeräte, sie ist im Google Play Store und im Apple App Store erhältlich. Die historischen Schauplätze werden darin "begehbar", ohne tatsächlich vor Ort sein zu müssen, und wer seiner Betroffenheit Ausdruck verleihen möchte, kann bei seinem Besuch sogar virtuell eine Blume ablegen. Die Macher betonen, dass ihnen an einer "leicht zugänglichen" Darstellung der Materie gelegen war, die aber zugleich wissenschaftlich fundiert sein soll. Die App sei auch als Bildungsangebot für Schulen und Vereine zu verstehen.

Ein zentraler Impuls für das Gedenken an die Opfer des Olympia-Attentats kommt damit wieder einmal aus Fürstenfeldbruck. Dabei kann die 37 000-Einwohnerstadt, 25 Kilometer westlich von München gelegen, ja gar nichts dafür, dass sie 1972 zum Schauplatz eines Massakers wurde. Die Sicherheitskräfte hatten damals den überschaubaren Fliegerhorst für ihre Befreiungsaktion ausgewählt, weil sie fürchteten, am Flughafen Riem unschuldige Dritte zu gefährden.

Die Initiative für eine stärkere Gedenkkultur und eine eigene Erinnerungsstätte ging in Bruck vor fast drei Jahrzehnten von Thomas Karmasin (CSU) aus. Karmasin wurde 1996 zum Landrat gewählt, mit 33 Jahren damals der jüngste in ganz Bayern. Während man sich in München mit dem Gedenken eher schwertat, nahm Karmasin die Sache in die Hand, nicht zuletzt bewegt von Kindheitserinnerungen an die Terrornacht.

Am 5. September 1999 wurde vor dem Haupttor des Fliegerhorsts ein Mahnmal eingeweiht, das der Gröbenzeller Künstler Hannes L. Götz geschaffen hatte: eine Granitschale, in der Gebetszettel und - einer jüdischen Tradition folgend - Steinchen abgelegt werden können. Alljährlich gibt es dort seither eine Gedenkveranstaltung; Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, hat nicht eine einzige verpasst. Auch die israelische Generalkonsulin ist stets zu Gast.

Eine "kluge und vorwärtsgewandte Erinnerungskultur" attestiert Knobloch dem Landkreis, bei jeder passenden Gelegenheit lobt sie die "vorbildlichen Bemühungen" in Bruck. Als im Gedenkjahr 2022 das Jüdische Museum in München das Projekt "Zwölf Monate - Zwölf Namen" anstieß, um die Opfer des Anschlags mit Installationen und Ausstellungen zu würdigen, war das Brucker Land gleich sechs Mal beteiligt, nicht zuletzt auf Betreiben des Historischen Vereins FFB.

Auch die drei jungen Historiker, die als Berater für den digitalen Erinnerungsort arbeiten, konnten 2022 Akzente setzen. Dominik Aufleger, Anna Greithanner und Robert Wolff entdeckten im Staatsarchiv unter anderem eine Kopie des Bekennerschreibens, mit dem die palästinensischen Terroristen an jenem 5. September 1972 die Freilassung von inhaftierten Gesinnungsgenossen forderten. Alle wesentlichen Autoren zum Thema waren bislang davon ausgegangen, dass ungefähr 230 Namen auf dieser Liste stehen. Aufleger, Greithanner und Wolf wiesen nach: Es sind 328. Und im Gegensatz zu bisherigen Annahmen ist Linksterrorist Andreas Baader nicht darunter.

In Fachkreisen hört man nun, dass die drei jungen Wissenschaftler sich mit ihrer Arbeit in Bruck für die Historikerkommission zum Olympia-Attentat empfohlen haben, die das Bundesinnenministerium derzeit zusammenstellt. Im Mai soll das achtköpfige, internationale Team seine Forschungsarbeit aufnehmen, drei Jahre soll sie dauern.

Am Fuße des Towers starben 1972 die meisten Opfer

Das große Ziel in Fürstenfeldbruck bleibt es, das Gedenken im Fliegerhorst selbst zu ermöglichen. Die öffentliche Strahlkraft des schlichten Mahnmals direkt an der Kasernenmauer ist naturgemäß begrenzt - der ikonische Tower, zu dessen Füßen 1972 die meisten Opfer starben, könnte bei Besucherinnen und Besuchern eine ganz andere emotionale Wucht entwickeln.

Auch Charlotte Knobloch hat deshalb immer den Plan unterstützt, den Tower zur Gedenkstätte umzubauen - "absolut gleichberechtigt" mit dem 2017 eröffneten Erinnerungsort im Olympiapark in München. Die wachsende Distanz zu den Ereignissen von 1972 mache es umso wichtiger, so Knobloch, einen Ort zu schaffen, an dem auch jungen Menschen die Zusammenhänge vermittelt werden. Die bayerische Staatsregierung hat mehrmals Zustimmung zu der Idee signalisiert und Mittel in Aussicht gestellt, der Landkreis hat ein Konzept erarbeitet. Doch alles hängt am Abzug der Bundeswehr.

Zwar ist der Flugbetrieb seit 2015 eingestellt, auf Teilen des Areals finden Fahrsicherheitstrainings der bayerischen Polizei und von BMW statt. Doch "Fursty" beherbergt auch weiterhin einige Dienststellen der Luftwaffe, vor allem die Offiziersschule. Erst wenn die Bundeswehr abrückt, kann das Projekt Gedenkort konkret werden, und das wird voraussichtlich nicht vor 2026 geschehen. Immerhin hat der Landkreis von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima) bereits eine Absichtserklärung erhalten, dass bei der dann anstehenden Konversion der Kaserne in ein Wohn- und Gewerbegebiet der Tower nicht in fremde Hände gelangen soll.

Bis es so weit ist, werden sie sich in Fürstenfeldbruck halt an jedem 5. September vor dem Kasernentor versammeln, Ansprachen halten und gemeinsam beten. Vergangenes Jahr, beim großen staatlichen Trauerakt zum 50. Jahrestag des Olympia-Attentats auf dem Rollfeld des Fliegerhorsts, hat Landrat Karmasin vor den Hinterbliebenen der Opfer ein Versprechen abgegeben: "Wir bleiben da, Jahr für Jahr."

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