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Verteilung von Nahrungsmitteln:Notstand im globalen Supermarkt

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Die einen werfen jedes Jahr 220 Millionen Tonnen Lebensmittel in den Müll, die anderen versuchen, von 1,25 Dollar am Tag zu leben. Weltweit ist Nahrung knapp und unfair verteilt, obwohl es noch nie mehr Wohlstand gab. Doch wenn ein Kilo Bananen im Supermarkt nur 70 Cent kostet, zahlt irgendwo irgendwer drauf.

Ein Essay von Silvia Liebrich

Das Guinness Buch ist eine wundersame Welt voller kurioser Rekorde. Das größte Toast-Mosaik ist so einer. Mit 15 000 Scheiben Weißbrot haben Feuerwehrmänner vor zwei Jahren in der Nähe von München das Gesicht des Physikgenies Albert Einstein nachgezeichnet. Vier Stunden und 32 Toaster haben sie dafür gebraucht. Der größte Leberkäse wurde 2009 in Baden-Württemberg im Landkreis Biberach gebacken, 3118 Kilogramm schwer und mehr als 15 Meter lang. Neun Rinder und 28 Schweine haben ihr Leben gelassen.

Essen und Trinken gehören zu den beliebtesten Kategorien im Buch der Weltrekorde. Wer kann den größten Burger brutzeln, wer das meiste Bier trinken? Wer kann Tische decken, die sich unter der Last von Speisen biegen, wie in Grimms Märchen? Nahrung im Überfluss ist Sinnbild für ein gutes Leben, überall auf der Welt, in allen Kulturen. Der ewige Traum der Menschheit.

Doch nirgendwo wird er so gelebt wie in den Industriestaaten. Die Schattenseite der Genusskultur: Mehr als 220 Millionen Tonnen noch genießbarer Lebensmittel werden dort pro Jahr weggeworfen, schätzt die Welternährungsorganisation FAO. Eine Menge, die der Nahrungsmittelproduktion aller afrikanischen Länder südlich der Sahara entspricht.

Armut bedeutet Hunger

Für einen großen Teil der Weltbevölkerung bleibt das Schlaraffenland ein unerfüllbarer Traum. Wo Nahrung knapp ist, wird aus dem schönen Leben schnell der nackte Kampf ums Überleben. Nie zuvor gab es so viel Wohlstand auf dieser Erde und gleichzeitig so viele Menschen, die daran nicht teilhaben, stellt die Weltbank fest. 1,2 Milliarden Kinder, Frauen und Männer leben von weniger als 1,25 Dollar am Tag, etwa 90 Cent. Das ist die Schwelle, mit der extreme Armut definiert wird. Armut bedeutet Hunger.

Die Weltbank hat auch ausgerechnet, dass etwa 125 Milliarden Euro pro Jahr notwendig wären, um allen Menschen über diese Schwelle zu helfen. Doch das sind Zahlenspiele. Keine Regierung erwägt, auch nur einen Teil dieses Betrages aufzubringen. Dabei wäre das ein Klacks, verglichen mit dem Schaden, den die Finanzkrise von 2008 angerichtet hat. Deren Kosten für die Weltwirtschaft werden auf bis zu acht Billionen Euro geschätzt.

Für viele Menschen in Entwicklungsländern fängt der Überlebenskampf erst jetzt so richtig an. Die Nahrungsgrundlage gerät zunehmend in Gefahr. Lebensnotwendige Ressourcen wie Wasser und Böden werden überstrapaziert. Weltweit geht immer mehr Ackerland verloren. Süßwasserreserven schwinden. Der Klimawandel bedroht die Ernten. Die Zeichen sind nicht zu übersehen. Die Preise für Agrarrohstoffe sind im vergangenen Jahrzehnt so stark gestiegen wie in den vorhergehenden fünf Jahrzehnten nicht. Das spüren auch die Deutschen. Lebensmittel werden teurer.

Was hierzulande das Haushaltsbudget schmälert, kann jedoch anderenorts rasch lebensgefährlich werden und Volksaufstände auslösen, wie 2007 die Tortillakrise in Mexiko. Eine Ursache war das zuvor abgeschlossene Freihandelsabkommen Nafta mit den nordamerikanischen Staaten. Mexikanische Bauern konnten nicht mit dem staatlich subventionierten Mais aus den USA konkurrieren. Plötzlich war das Land abhängig von Einfuhren. Und als der Biosprit-Boom die Maispreise in schwindelerregende Höhen trieb, brachte das viele Mexikaner in Existenznöte, weil die sich vor allem von Mais ernähren

Lebensmittelpreise haben sich verdoppelt

Global haben sich die Preise für Nahrungsmittel seit der Jahrtausendwende mehr als verdoppelt. Doch in ärmeren Ländern stiegen sie weitaus stärker als in den Industrieländern. In einigen Regionen Ostafrikas mussten die Menschen der FAO zufolge zeitweise sogar das Dreizehnfache ausgeben. Immer mehr Regierungen ärmerer Länder sehen sich nicht mehr in der Lage, ihre Bevölkerung ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen.

Es herrscht Notstand im globalen Supermarkt. Beispiel Kenia. Ein Land, das nach afrikanischen Maßstäben durchaus als relativ wohlhabend gilt. Noch in den achtziger Jahren bauten die Bauern des afrikanischen Staates genug an, um den heimischen Bedarf zu decken. Heute muss Kenia knapp zwei Millionen Tonnen Weizen, Reis und Mais pro Jahr an den internationalen Agrarmärkten zukaufen, weil die heimischen Produzenten nicht genug liefern.

Für diese Entwicklungen sind die Wohlstandsnationen mitverantwortlich. Die Globalisierung, die auch den Lebensmittelsektor fest im Griff hat, wirft lange Schatten, vor allem in den Regionen der Erde, in denen es nicht viel zu verteilen gibt. Zugeben mag das in der westlichen Welt kaum jemand. Denn das käme einem Schuldgeständnis gleich. Industrieländer und Organisationen wie die Weltbank werden nicht müde, die Vorzüge der Globalisierung zu preisen.

Die einen sollen das produzieren, was die anderen brauchen. Getreide aus Europa und Amerika im Tausch gegen Luxusgüter wie Kaffee, Kakao oder Tropenfrüchte aus Entwicklungsländern. Die weltweite Arbeitsteilung schaffe Synergieeffekte, senke die Kosten. Der Abbau von Handelsschranken erleichtere den Warenaustausch und schaffe Wohlstand, heißt es. Und wir haben uns längst daran gewöhnt, Äpfel aus Chile, Steaks aus Argentinien, tropische Früchte aus Vietnam zu kaufen, zu jeder Jahreszeit und meist auch noch für einen Spottpreis. Grenzenloser Konsum, der kaum hinterfragt wird, Hauptsache billig.

Das für den reich gedeckten Tisch hierzulande anderenorts Wälder gerodet, Menschen von ihrem Land vertrieben, Böden und Grundwasser vergiftet und Arbeitskräfte mit Hungerlöhnen ausgebeutet werden, wollen wir lieber nicht so genau wissen. Doch es gibt sie, die Verlierer der Globalisierung, und die Reichen dieser Welt haben sie dazu gemacht.

Rosen statt Getreide

Zurück zum Beispiel Kenia: Während die Nahrungsmittelpreise für die Kenianer in den vergangenen Jahren stark stiegen, wuchsen die Löhne kaum mit. Dafür liefert das Land jetzt große Mengen Rosen in die ganze Welt. Herangezogen werden sie in riesigen Plantagen, mit Hilfe giftiger Pestizide und unter Arbeitsbedingungen, die manche Kritiker als moderne Sklaverei bezeichnen.

Doch wie ist es dazu gekommen? Vor 30 Jahren erzeugte Kenia noch genug Nahrungsmittel, dafür schob das Land einen Berg Schulden vor sich her. Der Internationale Währungsfonds und andere boten Kredite an, forderten dafür aber, dass das Land seine Agrarmärkte öffnet und Beihilfen für seine Bauern streicht. So kamen die Rosen ins Spiel. Große Plantagen sollten Kenia helfen, seine Schulden bei internationalen Geldgebern abzutragen. Doch seit den achtziger Jahren ist Kenias Schuldenberg um das Dreifache gewachsen. Die Blumen haben Kenia die Globalisierung gebracht, aber nicht mehr Wohlstand. Dafür können wir nun im Supermarkt um die Ecke mitten im Winter ein Bündel Rosen ab drei Euro erstehen.

Beispiele wie diese gibt es unzählige, auch auf anderen Kontinenten. Viele Entwicklungsländer sind gefangen im Schuldenkreislauf der Globalisierung. Und die nächste Welle rollt bereits. Finanzinvestoren stürzen sich auf Agrarrohstoffe, schließen Wetten auf Mais, Weizen oder Zucker ab - und verschärfen so das Auf und Ab der Notierungen. In den Entwicklungsländern sichern sich internationale Anleger billiges Ackerland. Auch dies geschieht mit freundlicher Unterstützung von IWF und Weltbank. Die Regierungen seien nicht in der Lage, ihre Landwirtschaft selbst zu stärken, argumentieren sie. Deshalb sei die Hilfe von internationalen Anlegern und Agrokonzernen notwendig.

Vor allem die reichen Länder profitieren

Grund und Boden wird zu Schleuderpreisen verpachtet, über Zeiträume von bis zu hundert Jahren. Der übliche Kurs in Ländern wie Kenia, Mosambik oder Sambia liegt bei einem Dollar pro Hektar und Jahr. Die Menschen, vor allem Kleinbauern, die vorher auf diesem Land gelebt haben, werden meist vertrieben, ohne Entschädigung. Bürgerrechtler sprechen von Landraub. Auf den so eroberten Äckern lassen die neuen Eigner Gemüse, Obst oder Palmöl für den Weltmarkt produzieren. Betroffene Entwicklungsländer müssen in der Folge noch mehr Grundnahrungsmittel importieren.

Hinzu kommt, dass sie ihren internationalen Geschäftspartnern nicht gewachsen sind. Um Investoren in Schach zu halten, fehlt häufig die Rechtsgrundlage, und die Landnehmer haben bereits ein neues Mittel ersonnen, um ihre finanziellen Interessen zu zementieren. Mit Hilfe von Investitionsschutzabkommen erheben sie Anspruch auf millionenschwere Entschädigungen, sollten Entwicklungsländer ihre Verträge nicht erfüllen. Ein fatales Druckmittel, das beim Handelsabkommen zwischen den USA und der EU (TTIP), ebenfalls eine wichtige Rolle spielt.

Wetten auf Nahrungsmittel gelten im globalen Casino der Finanzmärkte als sichere Bank. Die Weltbevölkerung wächst, und die Lebensmittelproduktion kann kaum noch schritthalten. Das treibt die Preise nach oben. Deshalb fließt immer mehr Kapital unkontrolliert in den Agrarsektor. Dabei zeigt sich immer deutlicher: die Heilsversprechen der Globalisierung sind trügerisch. Es sind vor allem die reichen Länder, die profitieren.

Tragische Rekorde

Wenn ein Kilo Bananen in einem deutschen Supermarkt 70 Cent kostet, zahlt irgendwo jemand drauf. Solche Preise lassen sich nur erzielen, wenn etwa ein Plantagenbesitzer in Ecuador Niedriglöhne zahlt und keine Sozial- und Umweltstandards einhält. Aufrütteln lassen wir uns durch diese Missstände meist erst dann, wenn es Tote gibt, wie in den Textilfabriken Bangladeschs.

Die Globalisierung schafft gefährliche Abhängigkeiten für benachteiligte Länder. Unmittelbare und drastische Folge sind steigende Lebensmittelpreise. Damit Nahrung fair verteilt wird und bezahlbar bleibt, ist eine grundlegende Kurskorrektur notwendig. Zwar sind sich die 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) einig, dass der Kampf gegen Hunger Vorrang haben muss. 2010 versprachen sie, Spekulationen mit Nahrungsmitteln einzudämmen. Geschehen ist seitdem so gut wie nichts.

Auch an der fragwürdigen Entwicklungshilfepolitik von IWF und Weltbank hat sich kaum etwas geändert. Dabei ist die nächste Hungerkrise nur eine Frage der Zeit. Vor mehr als 50 Jahren starben bei der wohl größten Katastrophe der Geschichte in China 15 bis 43 Millionen Menschen. Doch Rekorde wie dieser schaffen es nicht ins Guinness Buch. Sie sind nicht kurios und schon gar nicht unterhaltsam, sondern einfach nur tragisch.

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Quelle:
SZ vom 28.12.2013
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