Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Wie die EU-Mitgliedsländer wirtschaften sollen

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Die Kommission stellt ihre lange erwarteten Verbesserungsideen für den Stabilitätspakt vor: mehr Spielraum für Regierungen, aber auch mehr Härte.

Von Björn Finke, Brüssel

Mehr Spielraum, aber dafür auch mehr Härte - diesen Deal unterbreitet die EU-Kommission den Mitgliedstaaten bei den Regeln für solide Haushaltsführung. Die Behörde präsentierte am Mittwoch in Brüssel die lange erwarteten Reformvorschläge für den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Demnach sollen hoch verschuldete Euro-Staaten wie Griechenland und Italien mehr Zeit und Flexibilität erhalten, ihre Verbindlichkeiten zu senken. Im Gegenzug sollen bei Verstößen schneller Strafen drohen. Kommissionsvizepräsident Valdis Dombrovskis sagte, das Konzept "wird uns ermöglichen, zusammenzuarbeiten, um Schulden zu verringern, unsere Volkswirtschaften zu stärken und die Basis für unseren künftigen Wohlstand und für Stabilität zu legen".

Die Vorschläge kamen jedoch nur in Form eines Positionspapiers, Gesetzentwürfe sollen später folgen, die Kommission peilt spätestens März an. Zuvor will die Behörde mit den Regierungen ausloten, ob das Konzept konsensfähig ist. Bundesfinanzminister Christian Lindner gehört zum Beispiel zu jenen Kritikern, die davor warnen, der Kommission zu viel Spielraum zu geben, wenn sie mit einzelnen Regierungen künftig individuelle Pfade für den Schuldenabbau vereinbart. Dies sieht das Konzept vor, als Ersatz für unrealistische und daher nie durchgesetzte Vorschriften, die von hoch verschuldeten Ländern wie Griechenland völlig utopische Haushaltsüberschüsse verlangt haben. Lindner sagte aber am Mittwoch, in der Währungsunion müssten einheitliche Regeln gelten: "Das muss konsequent erreicht werden." Eine Lockerung von Vorschriften oder mehr Spielräume würden nicht helfen. "Das wäre nicht ausbalanciert", sagte der FDP-Vorsitzende.

Die Zeit drängt: Anfang 2024 sollen die Regeln in Kraft treten

Hat die Kommission einen Gesetzentwurf vorgelegt, müssen sich Ministerrat, also das Gremium der Mitgliedstaaten, und das Europaparlament damit befassen. Die Zeit drängt: Die Kommission hat vor zweieinhalb Jahren, zu Beginn der Pandemie, entschieden, den Stabilitätspakt vorerst nicht anzuwenden, damit Regierungen Firmen und Bürger besser unterstützen können. Doch Anfang 2024 sollen die Regeln wieder in Kraft treten - und das in angepasster Form. Das Reformgesetz rechtzeitig zu verabschieden, wird jedoch schwierig werden.

Eingeführt wurde der Stabilitätspakt 1997; er soll neue Schuldenkrisen verhindern. Dafür schreibt er Obergrenzen für das jährliche Haushaltsdefizit von drei Prozent der Wirtschaftsleistung sowie eine Zielmarke für die Gesamtverschuldung des Staats von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung vor. Bei Verstößen leitet die Kommission Verfahren ein; es drohen sogar Geldbußen, wobei die Behörde bislang nie Strafen verhängt hat. Das neue Konzept würde an den beiden Zielmarken drei und 60 Prozent festhalten. Allerdings werden 2023 nach Prognosen der Kommission nur acht von 19 Euro-Staaten das 60-Prozent-Limit unterschreiten.

Liegen Regierungen darüber, würde die Kommission ihnen den Vorschlägen zufolge vier Jahre geben, um einen Haushaltskurs einzuschlagen, der den Schuldenberg nachhaltig abbauen wird. Versprechen die Regierungen wachstumsfördernde Reformen und Investitionen, können sie drei Jahre länger Zeit fürs Umsteuern erhalten. Damit bieten die neuen Regeln stärkere Anreize für staatliche Investitionen. Denn ein Schwachpunkt des bisherigen Stabilitätspakts ist, dass Regierungen oft bei den Investitionen gespart haben, um die Budgetvorgaben zu erfüllen, und weniger stark bei laufenden Ausgaben wie Gehältern und Renten.

"Die Kommission braucht echte Folterinstrumente."

Die Vorschläge sollen auch die Durchsetzung der Regeln verbessern. Verstoßen hoch verschuldete Regierungen gegen die Haushalts-Vereinbarungen, soll die Kommission automatisch Strafverfahren starten. Die Behörde kann EU-Fördermittel zurückhalten und einfacher als bisher Geldbußen verhängen.

Im Europaparlament gibt es jedoch bereits viel Kritik an dem Konzept. "Wir steuern mit hohem Tempo auf die nächste Staatsschuldenkrise zu", sagt etwa der CSU-Abgeordnete Markus Ferber. "Was wir nun gar nicht gebrauchen können, ist mehr Flexibilität bei den Schuldenregeln." Außerdem verlangt der wirtschaftspolitische Sprecher der christdemokratischen EVP-Fraktion härtere Strafen: "Die Kommission braucht echte Folterinstrumente, die sie dann auch bereit ist zu benutzen."

Der FDP-Abgeordnete Moritz Körner hält die Ideen immerhin für "eine solide Verhandlungsgrundlage", doch mit "viel Raum für Verbesserungen". Genau wie sein Parteifreund Lindner sieht er die individuelle Vereinbarung von Abbaupfaden für Schulden skeptisch: "Je mehr die Abbaupfade individualisiert werden und je mehr Entscheidungsfreiheit der Kommission bei der Ahndung der Defizite zugebilligt wird, umso weniger erfolgreich wird der Schuldenabbau sein", sagt der haushaltspolitische Sprecher der FDP im Europaparlament. "Das hat die Vergangenheit bewiesen."

Rasmus Andresen, der Chef der deutschen Grünen im EU-Parlament, hätte sich hingegen noch umfassendere Lockerungsübungen gewünscht. "Die Kommission hätte weiter gehen und ein klares Signal für öffentliche Investitionen senden müssen", sagt er. Der Stabilitätspakt müsse künftig Ausnahmen für staatliche Investitionen in Klima- und Umweltschutz vorsehen, fordert Andresen. Kein Zweifel: Vor der Reform stehen schwierige Debatten an.

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