Mario Rönsch:Deutsche Ermittler nehmen untergetauchten Rechtsextremen in Budapest fest
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Von Max Hoppenstedt, Simon Hurtz, Daniel Mützel, Sebastian Pittelkow und Katja Riedel
Mittwochmorgen, 5:59 Uhr im vornehmen Budapester Stadtteil Pasarét: Beamte der ungarischen Antiterroreinheit TÉK stürmen eine Altbauwohnung im Haus mit der Nummer 4, unweit der malaysischen Botschaft. Hinter den ungarischen Beamten mit kugelsicheren Westen folgen Ermittler des Berliner LKA. In der Wohnung hält sich ein Mann auf, der zu Deutschlands meistgesuchten Rechtsextremen zählt. Die Beamten haben Mario Rönsch verhaftet. Es ist das Ende einer Jagd, die mehr als zwei Jahre angedauert hat.
Nach Recherchen von Motherboard, NDR, WDR und SZ ist die Staatsanwaltschaft Berlin überzeugt, dass Rönsch den rechten Waffenhandel "Migrantenschreck" betrieben hat. In dem Online-Shop, der seine Waffen als "Verteidigung" gegen "Ficki-Ficki-Fachkräfte" bewarb, deckten sich Hunderte Deutsche mit Schusswaffen ein. Staatsanwältin Susann Wettley nennt das Ausmaß der Waffenverkäufe "erschreckend". Rönsch habe mit seiner Botschaft "scheinbar unbescholtene Bürger" erreicht.
Der 34-jährige Erfurter soll außerdem zwei der größten deutschen Hetzseiten betrieben haben: zunächst die berüchtigte Facebook-Seite "Anonymous.Kollektiv" (AK), die mit rassistischen Posts und Verschwörungstheorien fast zwei Millionen Likes sammelte; später die Fake-News-Schleuder "Anonymousnews.ru" (AN), deren Beiträge Millionen Leser erreichten. Zahlreiche Indizien, die SZ und Motherboard vorliegen, sprechen dafür, dass Rönsch tatsächlich hinter den Seiten steckt. Dazu zählen Aussagen von Weggefährten, E-Mails und interne Screenshots aus dem Administratorenbereich von AK sowie Registrierungsdaten der Webseite Migrantenschreck.
Im Netz waren Migrantenschreck und AK allgegenwärtig, doch Rönsch selbst blieb lange ein Phantom. Als ihn die Staatsanwaltschaft Erfurt Anfang 2016 zur Fahndung ausschrieb, tauchte er unter und setzte sich nach Budapest ab. Dort wechselte er mehrfach seine Adressen und narrte die deutschen Ermittler. Migrantenschreck verkaufte in dieser Zeit Waffen im Wert von mehr als 100 000 Euro, Millionen Deutsche lasen die rassistischen Falschmeldungen der Anonymous-Seiten. Nach Jahren der Flucht beginnt mit der Verhaftung nun ein neues Kapitel der Akte Rönsch.
Im März 2014 tritt Mario Rönsch bei den sogenannten Montagsmahnwachen als Redner auf. Hier versammelt sich in Berlin Woche für Woche eine Querfront aus linken Friedensaktivisten, antisemitischen Verschwörungstheoretikern und Russlandfreunden. "Hallo, ich bin der Mario", stellt sich Rönsch vor. "Früher war ich Banker, heute bin ich Vollzeitaktivist." Es folgt eine Wutrede gegen die US-amerikanische Geld- und Wirtschaftspolitik. Seine Zuhörer jubeln ihm zu.
Schnell entwickelt sich die Facebook-Seite Anonymous.Kollektiv (AK) zum Sprachrohr und zur wichtigsten Werbeplattform der Montagsdemos. Mit dem Hacker-Kollektiv Anonymous hat sie nur den Namen gemein. Nur vorgeblich geht es AK um Meinungsfreiheit und Protest gegen Internetzensur. Tatsächlich machen die Betreiber Stimmung gegen Flüchtlinge, Muslime und das "Merkel-Regime". Zu diesem Zeitpunkt verzeichnet die Seite 400 000 Likes, später werden es knapp zwei Millionen sein.
Rönsch selbst bleibt im Hintergrund, offiziell will er nichts mit AK zu tun haben. Zu diesem Zeitpunkt achtet er noch penibel darauf, seine Rolle in der neurechten Szene geheim zu halten. Journalisten, die behaupten, Rönsch betreibe die Facebook-Seite, lässt er abmahnen. Motherboard und anderen Medien wurden entsprechende Äußerungen gerichtlich verboten.
Ermittlungen gegen die Hintermänner verlaufen im Sande, weil die Behörden nicht wissen, wie sie die Administratoren der Seite ermitteln sollen. Als Grünen-Politiker Volker Beck den Seitenbetreiber Anfang 2016 wegen Volksverhetzung und Verleumdung anzeigt, schreibt die Staatsanwaltschaft Erfurt Rönsch zur Fahndung aus - ohne Erfolg: Rönsch hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits nach Ungarn abgesetzt. Monate später wird SZ und Motherboard ein Screenshot zugespielt, der den internen Administratoren-Bereich von AK zeigen soll. Einer der drei Namen, die dort zu lesen sind: Mario Rönsch.
Lange bevor Rönsch auf dem Radar deutscher Ermittler auftaucht, arrangiert er eine lukrative Kooperation mit Kameraden aus dem rechten Spektrum. 2015 beginnt er, für das islam- und fremdenfeindliche Compact-Magazin zu arbeiten, eine der wichtigsten Publikationen der Neuen Rechten. "Er kam als Fan zu uns, hat dann seine Hilfe angeboten und sich langsam reingearbeitet", sagt ein leitender Mitarbeiter des Verlags, der viel mit Rönsch zu tun hatte.
Rönsch unterstützt das Magazin als freier Mitarbeiter und steigt zum Verantwortlichen für das Online-Marketing auf. Regelmäßig bekomme er mehr als 1000 Euro im Monat für seine Dienste überwiesen, heißt es aus Compact-Kreisen. Nahezu täglich verbreitet AK jetzt Compact-Artikel und fordert Nutzer auf, Abos abzuschließen.
Währenddessen werden die Inhalte auf AK extremer. "Er hat sich immer weiter radikalisiert", sagt ein hochrangiger Compact-Mitarbeiter. Das zeigt vor allem ein neues Projekt von Rönsch. Anfang Mai wird der Webshop Migrantenschreck auf den Namen "Mario Roensch" registriert. Die Seite ruft offen dazu auf, die Waffen, die sie anbietet, gegen Flüchtlinge einzusetzen. Die Gaspistolen und -gewehre, die in Deutschland illegal sind, werden unter anderem als "Meinungsverstärker gegen rotzfreche Antifanten" beworben.
Im Mai 2016 beendet Compact die Zusammenarbeit mit Rönsch, "weil wir jede Form von Gewalt in politischer Auseinandersetzung ablehnen". So behauptet es zumindest Chefredakteur Jürgen Elsässer auf der Webseite des Magazins. Ob das der einzige Grund für den Bruch zwischen Compact und Rönsch ist, bleibt unklar. Ehemalige Weggefährten stellen Rönsch als schwierigen, egomanischen Typ dar, der seine Partner regelmäßig vor den Kopf stoße.
Zum Krach mit Compact kommt Ärger mit Facebook hinzu: AK wird gesperrt, und der mutmaßliche Betreiber Rönsch verliert auf einen Schlag ein Millionenpublikum. Unmittelbar darauf startet das Nachfolgeprojekt Anonymousnews.ru (AN). Das Portal versteht sich sich "als scharfes Schwert gegen die systematische Manipulation, Propaganda und Volksverdummung durch den (...) politisch-medialen Komplex". Tatsächlich verbreitet die Seite Falschmeldungen, Rassismus und Verschwörungstheorien.
Auch ohne eigene Facebook-Präsenz wächst die Seite rasant und etabliert sich in der rechten Szene. Die teils dreist von anderen Medien kopierten, teils schlampig verfassten Texte finden dankbare Leser und verbreiten sich viral. Glaubt man den Angaben von AN, werden die Inhalte im Jahr 2017 mehr als 13 Millionen Mal aufgerufen, fast 4,5 Millionen Menschen sollen die Seite besucht haben. Angesichts der Resonanz in sozialen Medien scheint diese Zahl realistisch. Im Februar erzielte die Seite mehr Facebook-Interaktionen als Tagesschau, ZDF Heute oder die NZZ. Der Analysedienst Similarweb geht allein für diesen Monat von mehr als 1,4 Millionen Besuchen aus.
Den Aufstieg von AN erlebt Rönsch in Budapest. Ob er nach Ungarn flüchtete, weil er erfahren hatte, dass nach ihm gefahndet wurde, oder ob er schon immer mal an der Donau leben wollte, ist unklar. Fest steht: Rund 800 Kilometer von Erfurt und Berlin entfernt, wo Staatsanwälte gegen ihn ermitteln, fühlt er sich sicher vor deutschen Behörden. Mit seiner Freundin bezieht er eine herrschaftliche Wohnung. Seine Geschäfte scheinen gut zu laufen: Der Staatsanwaltschaft zufolge besitzt Rönsch mehrere Grundstücke und Wohnungen in seiner neuen Wahlheimat.
In Ungarn verdient der mutmaßliche Migrantenschreck-Betreiber an der Angst, die er verbreitet. Jahrelang hetzte AK gegen "kriminelle Flüchtlinge", in unschöner Regelmäßigkeit warnt die Nachfolgeseite AN vor "vergewaltigenden Migrantenhorden". Wer sich von der Panikmache anstecken lässt, kann sich bei Migrantenschreck Beruhigungsmittel bestellen. "Wenn Sie sich nicht gefallen lassen wollen, dass Ihre Stadt zum gesetzlosen Tummelplatz von Asylforderern wird, wenn Sie Ihre Frauen schützen und Ihre Fußgängerzonen zugänglich halten wollen - dann handeln Sie jetzt!", ruft der Waffenshop zum Kauf seiner Ware auf. Der Newsletter von AN macht fleißig Werbung für Migrantenschreck.
Menschen aus einem Dutzend Ländern, darunter Hunderte Deutsche, bestellen Gewehre, Pistolen, Revolver und Munition. Allein im Oktober 2016 setzt Migrantenschreck mehr als 35 000 Euro um. "Brachiale 140 Joule Mündungsenergie befördern die 19,3 mm Hartgummigeschosse ohne Umwege ins Ziel und lassen jeden Angreifer alt aussehen", wirbt Migrantenschreck für das "Präzisionsgewehr Deluxe". Das reicht, um Menschen tödlich zu verletzen. Für die Kunden bedeutet das: Geldstrafe oder bis zu fünf Jahre Haft wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz.
"Einfach, schnell und diskret - das ist das Motto von Migrantenschreck", heißt es auf der Webseite. Einfach und schnell mag die Abwicklung sein, diskret ist sie nicht. Rönsch, der sich selbst als IT-Experten begreift, begeht schwere Fehler. Eine gravierende Schwachstelle gibt Dritten Zugriff auf die Datenbank der Bestellungen und Käufer. Die Kundendaten gelangen in die Hände mehrerer Staatsanwaltschaften und Verfassungsschutzämter.
Sie werden auch Medien zugespielt. Zeit Online und Journalisten von SZ und Motherboard besuchen ein Dutzend Migrantenschreck-Kunden in ganz Deutschland: Männer und Frauen, Junge und Alte, Arbeiter und Akademiker, ein FDP-Wähler sowie AfD-Mitglieder. Ein Ex-Polizist besorgt sich einen Ersatz für seine Dienstwaffe, eine alleinerziehende Mutter will ihr kleines Kind vor Flüchtlingen schützen, obwohl sie noch nie schlechte Erfahrungen gemacht hat. Einige sind wütend, andere haben einfach nur Angst. Ein Kfz-Mechaniker aus dem Berliner Umland sagt: "Ich will ja keine Flüchtlinge töten. Es geht um einen Denkzettel."
Anfang 2017 klingeln nicht nur Journalisten bei den Bestellern, sondern auch Polizisten. Mehrere Razzien folgen, die Gerichtsverfahren dauern noch an. Bis heute werden immer wieder Waffenkäufer verurteilt. Die Seite Migrantenschreck wählt indes einen Ausweg, der den meisten der Kunden verwehrt bleibt: Sie verschwindet spurlos. Auf dem russischen Netzwerk VK postet Rönsch ein Foto, das ihn an der Schwarzmeerküste der Krim zeigen soll. Er grinst in die Kamera und kommentiert das Bild so: "Viele Grüße aus Jalta! Merkel: Fuck u!"
Deutsche Ermittler halten das für ein Ablenkungsmanöver. Sie gehen davon aus, dass Rönsch Ungarn nie verlassen hat. Seit Anfang 2016 ist der Erfurter zur Fahndung ausgeschrieben. Er habe gegen Migranten gehetzt und Politiker verleumdet. Staatsanwälte sind überzeugt, dass er Hunderte Deutsche mit illegalen Schusswaffen belieferte. Trotzdem bleibt er noch mehr als ein Jahr lang unbehelligt.
Im Juli 2017 taucht ein neuer Waffenshop auf, der Migrantenschreck optisch ähnelt und die gleichen Waffen im Sortiment hat. Der "Patriotenshop" verspricht, Waffen "ohne bürokratische Hürden" unter anderem nach Deutschland verschicken zu können. Im Impressum ist eine noble Zürcher Adresse angegeben, vor Ort findet man jedoch weder Klingelschild noch Briefkasten. Ob tatsächlich Waffen verschickt werden, ist unklar.
Auch AN verbreitet bis zuletzt weiter fremdenfeindliche und antisemitische Inhalte. In einem Newsletter behauptet die Seite, Flüchtlinge erhielten "Luxus-Häuser", und "die Juden" übernähmen die Macht im Kanzleramt. Außerdem tauchen während des Bundestagswahlkampfs Hinweise auf, dass Rönsch im Kontakt zu AfD-Mitgliedern steht. Er verbreitete etwa kurz vor der Bundestagswahl das Gerücht, dass Frauke Petry eine Parteispaltung vorbereite. Diese Information war zum damaligen Zeitpunkt nur einem kleinen Kreis im rechten Flügel der Partei bekannt.
Der AN-Newsletter enthält auch Werbung für Bücher und andere Produkte aus dem Onlineshop des Kopp-Verlags. Es handelt sich um sogenannte Affiliate-Links aus dem Kopp-Partnerprogramm. Wenn Kunden über diesen Link bei Kopp bestellen, erhält AN einen kleinen Teil des Kaufpreises. Später verschwinden die Links, und AN behauptet, dass Kopp die Finanzierung beendet habe. Verleger Jochen Kopp bestreitet auf Anfrage, dass er oder der Verlag jemals "einen Newsletter von irgendjemand" finanziert hätten. Warum AN Kopp-Partnerlinks verbreitet, bleibt offen.
Im November 2016 fährt ein leitender Mitarbeiter des Compact-Magazins von seinem Büro im brandenburgischen Werder nach Berlin-Tempelhof. Beim LKA Berlin packt er ausführlich gegen Mario Rönsch aus. Kurz zuvor hatten Aktivisten den Ermittlern die Kundendaten von Migrantenschreck zugespielt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss ihnen klar sein, dass der Shop in großem Stil illegale und potenziell tödliche Waffen verschickt. Monate später beginnen in Deutschland die ersten Razzien gegen die Waffenkäufer. Der mutmaßliche Verkäufer der Waffen läuft indes frei in Budapest herum.
Die ermittelnde Staatsanwältin Susann Wettley erklärt das unter anderem mit der Rechtslage in Ungarn. Die Gaspistolen und -gewehre, die auf Migrantenschreck angeboten wurden, erfordern in Deutschland eine Waffenbesitzkarte. In Ungarn sind Erwerb und Besitz dagegen legal. Migrantenschreck konnte die Ware bei der ungarischen Waffenschmiede Keserű kaufen und für das Doppelte anbieten, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Dass die Waffen massenhaft und mit enormer Gewinnmarge illegal nach Deutschland weiterverkauft wurden, war für die örtlichen Behörden kein Grund einzugreifen.
Am Ende werden Rönsch wohl nicht nur Volksverhetzung und seine mutmaßlichen Waffendeals zum Verhängnis, sondern auch seine kreative Buchführung. Der Berliner Staatsanwaltschaft zufolge nutzte Rönsch mehrere Konten, um das Geld aus dem Migrantenschreck-Verkäufen zu verschleiern. Da Wettleys Ermittlerteam nachweisen kann, dass die Einkünfte aus illegalen Quellen stammen, ergibt sich für die ungarische Staatsanwaltschaft der Verdacht auf Geldwäsche. Die Ungarn observieren Rönsch und folgen ihm bis in die Kleinstadt Barcs an der kroatischen Grenze, wo er ein Haus besitzt. Noch am Tag vor der Razzia versichern sie: "Keine Sorge, wir haben ihn". Dann greifen sie zu.
So geht es mit Rönsch weiter
Derzeit sitzt Rönsch in Untersuchungshaft in Ungarn und wird verhört. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass er in wenigen Wochen nach Deutschland ausgeliefert werden könnte. "Wenn Deutschland den Puigdemont ausliefert, dann können die Ungarn auch den Rönsch ausliefern", scherzt Wettley.
Zumindest die Anklageschrift ist bereits fertig. Beschuldigte können nach einer Auslieferung nur für die Vergehen angeklagt werden, die bereits im Haftbefehl standen. Deshalb musste die Staatsanwaltschaft die Verhaftung akribisch vorbereiten. Dementsprechend dürfte Rönsch sich schon bald in Berlin vor Gericht verantworten müssen. Ihm drohen für den Waffenhandel mindestens sechs Monate und höchstens fünf Jahre Haft. Ob Rönsch sich auch der Volksverhetzung schuldig gemacht habe, könne "noch nicht abschließend beurteilt werden", sagt die Staatsanwältin.
Auf AN heißt es aktuell: "Zivilcourage gegen Linksextremismus: Mutiger Bürger schlägt beherzt auf Jutta Ditfurth ein". Es dürfte für lange Zeit der letzte Artikel auf der Seite sein. Auch "Patriotenshop" ist momentan noch online und wirbt für seine Ware. Wer dort noch bestellt, wird wohl keine Schusswaffe mehr erhalten - höchstens Besuch von der Polizei.