Süddeutsche Zeitung

EU-Kommission:Warum Brüssel die Wirtschaftsprüfer verschont

Lesezeit: 4 min

Nach der Wirecard-Pleite hatte EU-Finanzmarktkommissarin Mairead McGuinness eine Reform der Abschlussprüfung angekündigt. Warum daraus bis zur nächsten Europawahl wohl nichts wird.

Von Jan Diesteldorf, Björn Finke und Markus Zydra, Frankfurt/Brüssel

Als er im Hauptberuf noch Schwindler war, hat sich Oliver Bellenhaus stets an einer Leitfrage orientiert: "Ist der Wirtschaftsprüfer glücklich?" Das sei immer entscheidend gewesen, sagte der Angeklagte und Kronzeuge vor wenigen Wochen im ersten Wirecard-Strafprozess am Landgericht München I aus. Man habe die Bücher des insolventen Zahlungsdienstleisters immer passgenau zur Täuschung der Abschlussprüfer frisiert, Rechnungen erfunden, Scheinverträge unterschrieben, E-Mails gefälscht. Jahrelang kamen die Manager des Konzerns damit durch, bis der mutmaßliche Milliardenbetrug im Sommer 2020 aufflog.

Die Milliardenpleite von Wirecard verdeutlichte, wie leicht Wirtschaftsprüfer glücklich zu machen sind, während sie gleichzeitig nicht merken, dass sie Unterlagen von mutmaßlichen Betrügern vor sich haben. EY, eine der "großen Vier" der globalen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, leidet bis heute an dem Versagen. Jahrelang hatte sie Wirecard-Bilanzen testiert - ohne Einschränkungen. Die deutsche Wirtschaftsprüferaufsicht APAS will noch im Frühjahr ihr Verfahren gegen EY und zwölf ehemals oder noch aktuell dort beschäftigte Wirtschaftsprüfer abschließen. Dem Unternehmen und den Einzelpersonen drohen jeweils empfindliche Strafen.

Der Wirecard-Skandal mischte auch Brüssel auf. Die EU-Kommission wollte die Wirtschaftsprüfer strenger regulieren. Die letzte Regulierung folgte der globalen Finanzkrise. Damals sollte ein zentraler Interessenkonflikt der "großen Vier" ein für alle Mal unterbunden werden, und zwar durch eine verpflichtende Abspaltung des lukrativen Beratungsgeschäfts vom vielleicht drögen, aber für die Gesamtwirtschaft wichtigen Buchprüfungsgeschäft. Daraus wurde am Ende nichts, wohl auch, weil sich die Wirtschaftsprüfer-Lobby so vehement dagegen gewehrt hatte.

Die Kommission hat es jetzt nicht mehr eilig mit den Reformen

Für das neue Jahr hätten die Lobbyisten in Brüssel wieder ähnlich viel zu tun haben können. Denn die EU-Kommission wollte neue Reformvorschläge vorlegen, verfasst als Gesetzentwurf, bis Ende 2022. Das hatte Finanzmarktkommissarin Mairead McGuinness im Mai 2021 angekündigt. "Wenn wir nicht sicher sein können, dass Wirtschaftsprüfer gründlich arbeiten und dass die Unterschrift eines Prüfers einen echten Wert hat", sagte die Irin damals, "haben wir ein großes Problem."

Jetzt scheint es die Kommission nicht mehr so eilig zu haben - und offenbar konnte man sich innerhalb der Behörde auch nicht auf konkrete Reformvorschläge einigen. Es gehe eben um komplexe Fragen, sagte McGuinness in ihrer jüngsten Rede im Dezember: "Wir müssen die Probleme mit dem Prüfungsrahmen genauer auswerten. (...) Und wir brauchen mehr Zeit, um einen Konsens über politische Optionen zu finden."

Nicht zuletzt habe Russlands Krieg gegen die Ukraine die Prioritäten verschoben, heißt es jetzt aus der obersten EU-Behörde. Im Bereich der Finanzmarktregulierung sind derzeit noch 15 laufende Gesetzgebungsverfahren in der Beratung. Sieben weitere wollen die Beamten in diesem Jahr vorschlagen. Mit Blick auf eine Reform der Abschlussprüfung hätten die Vorbereitungen inklusive einer Studie länger gedauert als erwartet - bis zur nächsten EU-Wahl in gut einem Jahr fertig zu werden, werde schwierig. "Und schließlich sind die Probleme auf dem Prüfungsmarkt zwar bereits relativ gut erkannt, aber wir brauchen mehr Zeit, um uns über die politischen Maßnahmen einig zu werden", heißt es auf den Gängen des Berlaymont.

In der Tat wird nicht erst seit dem Fall Wirecard viel über die Probleme in dem Markt diskutiert. EY, PwC, KPMG und Deloitte bilden immer noch eine Art Oligopol bei der Bilanzprüfung, an ihnen kommt kaum jemand vorbei - sie teilen EU-weit 92 Prozent der Prüfungshonorare unter sich auf. Zwar müssen große, börsennotierte Unternehmen in der EU seit 2016 spätestens alle zehn Jahre ihren Prüfer wechseln. Das soll einen aus der Gewohnheit entstehender Schlendrian und eine zu große Nähe zwischen Prüfer und geprüftem Unternehmen unterbinden. "Doch mehr als die Hälfte der Unternehmen laden nur die großen Vier zur Angebotsabgabe ein. Da die Kosten für die Teilnahme hoch sind, nehmen kleinere Prüfungsgesellschaften oft nicht an Ausschreibungen teil, selbst wenn sie eingeladen werden", sagt Sebastian Mack, Experte für europäische Finanzmärkte am Jacques Delors Centre. Er könne nicht nachvollziehen, sagt Mack, warum die EU die Reform der Wirtschaftsprüfung "weiter verschleppe". Es gebe keinen Grund, noch länger zu warten: "Nach öffentlicher Konsultation, einem ESMA-Sonderbericht zu Wirecard und einschlägigen Studien des Parlaments und der Kommission gibt es auf jeden Fall genügend Material für einen Gesetzesvorschlag."

Immer wieder versagen Wirtschaftsprüfer, wie etwa 2001 beim US-Energiekonzern Enron

Wirtschaftsprüfer erfüllen eine Art hoheitliche Aufgabe für die Allgemeinheit, wenn sie Unternehmensbilanzen kontrollieren. Banken und Aktionäre geben nur dann Geld, wenn sie sich darauf verlassen können, dass die Testate der Spezialisten zuverlässig sind. In Deutschland geloben die Berufsabsolventen per Eid, ihre Arbeit sorgfältig, objektiv und gewissenhaft zu erledigen. Auch international gilt für diesen Berufsstand ein entsprechender Verhaltenskodex.

Dennoch ist die Liste des Versagens lang. Die Pleite des amerikanischen Energiehandelsriesen Enron 2001 löste erstmals weltweit Alarm aus: Der Firmenerfolg des Konzerns existierte nur auf dem Papier. Über ein Geflecht von mehr als 2000 Partnerfirmen hatte Enron jahrelang Geschäfte mit sich selbst gemacht. Die Wirtschaftsprüfer von Arthur Andersen merkten nichts - oder wollten nichts merken.

Aufgrund der Lehren aus dem Wirecard-Debakel hat Deutschland die Regeln für die Aufsicht über Wirtschaftsprüfer 2021 verschärft. Das Finanzmarktintegritätsgesetz sieht vor, dass Aktiengesellschaften ihre Prüfer nun alle zehn Jahre wechseln müssen, ergänzt um eine verpflichtende interne Rotation der Prüfer bei der Prüfungsgesellschaft. Beratung und Prüfung sind stärker voneinander getrennt. Auch die Finanzaufsichtsbehörde Bafin besitzt mehr Rechte: Sie darf die Manager eines geprüften Unternehmens und dessen Abschlussprüfer vorladen und vernehmen.

Doch noch immer fehlen einheitliche Regeln für alle Mitgliedsstaaten der EU. Insbesondere bei der Sanktionierung von mangelhaften Prüfungen, beispielsweise wenn der Prüfer nicht tief genug bohrt, wie etwa im Fall Wirecard, oder Fehler zwar gefunden, jedoch nicht beanstandet hat. "Die Höchststrafen für Verstöße reichen von 14 300 Euro in Lettland bis zu fünf Millionen Euro in Portugal", sagt Mack. Zwischen 2017 und 2020 seien in der gesamten EU nur vier Mal Geldbußen von mehr als einer Million Euro verhängt worden. "Große Prüfungsgesellschaften zahlen solche Strafen aus der Portokasse." Sebastian Mack fordert: "Wenn die EU-Kommission Skandale wie Wirecard in Zukunft verhindern will, muss sie grundlegende Reformen auf den Weg bringen. Dazu gehört auch, dass die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) die größten Prüfungsgesellschaften direkt beaufsichtigen sollte."

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